Literatur, Virtualität & Medienkampf
Forum zur Positionsbestimmung neuer Literatur in der Informationsgesellschaft
30. 5. - 1. 6. 1997
   


"sprache als abgefeuerter wille ist also einmal mehr ein liebgewonnener scheißdreck, weil er, der feuersprachige scheißwille, in seinem reservat seine bocksprünge zählt, wo man ihn sonntags mit den kindern besuchen und ihn der kinderseele vorführen kann: als gegenwelt und wie schrecklich es wäre, der scheißdreck als welt, wäre sprachfeuerwille eine einflußreiche möglichkeit. DAS ABNORME definiert schließlich den publikumsbegriff, zieht die grenze zwischen den bezahlten sitzen und dem verpinkelten arenastaub. und der ALLES-DARsteller als minoritäres publikum will ein gigantomanisches sterben und ein furchtbares glück aufführen und danach mit dem majoritären publikum einen elitären kelch trinken gehen, und das majoritäre publikum zahlt dem minoritären wahn tatsächlich ein wasserglas voll flüssigkeit."

(Werner Schwab)

Konzept

Literatur ist keine bequeme Sitzgelegenheit. Literatur ist Instrument, Waffe und Droge. Sie bietet bereitwillig Lösungen an, ihre Neugierde ist nicht zu zähmen und sie läßt niemals ab von ihren Opfern und Schützlingen, von ihren Freunden wie ihren Feinden. Das Entstehen, die sprunghaft wachsende Nutzung und dauernde Weiterentwicklung neuer Medien hat ihren Einfluß auch auf die literarische Welt. Dieser Einfluß ist umfassend, er betrifft die Literatur über ihren gesamten Produktionsweg hinweg und noch weit darüber hinaus. Es könnte sein, daß das, was wir als Mainstream kennen, schon lange tot ist. Trotzdem ist die Literaturszene vorne, hinten und in der Mitte gespalten. Der Guerillakrieg im Gutenbergdschungel tobt mit Nachdruck weiter, während die 'neuen Medien' nicht mehr sind als das alte Eisen im Gemischtwarenladen der Unterhaltungsindustrie. Trotzdem scheint es, als bestünden die avancierteren Projekte einer technokratischen Kultur sämtlich aus Anleihen klassischer Literaturproduktion.
Im Moment eines kulturellen Umbruchs werden an die Literatur neue formale UND inhaltliche Anforderungen gestellt. Die neuen Technologien bieten Möglichkeiten an Themen und Territorien für 'neue' Experimente. Welche Muster bilden sich? Es entstehen neue Perspektiven für Literatur, die aus dem fruchtbaren Boden eines sterbenden Undergrounds wächst, wenn man die neue Öffentlichkeit des Internet berücksichtigt. Die überkommene Hierarchie des Betriebssystems Literatur kann verändert werden. Es entstehen Möglichkeiten, Bücher, Periodika und andere Werke zu vertreiben, in elektronischen Zeitschriften und Fanzines zu publizieren, zu diskutieren und der Weltöffentlichkeit ein reifes Ei ins gemachte Nest zu legen.
Die Hartmoderne versammelt Spieler und Praktiker aus den analogen und digitalen Schrift-Galaxien, die dem entnervenden Geschwafel der Cyber-Konjunkturritter Sachverstand und vorsichtige Neugier am literarischen Potential der Computernetze entgegensetzen. Die Hartmoderne verbreitet keine Illusionen einer neuen Literatur im digitalen Medium, die nur auf ihre Entdeckung warte. An seinem literarischen Ort, irgendwo zwischen kabbalistischem Spielzimmer und kollektiver Text-Müllkippe, werden das Internet und die Computertexte vielleicht länger den Büchern nachgeordnet bleiben, als oft und gerne apostoliert. Die Hartmoderne begreift diese Randstellung als Chance und nimmt Partei für den Abfall. (...)

Programm

Die Hartmoderne präsentiert über mehrere Tage Lesungen, Diskussionen, Vorträge, Workshops, Präsentationen und Performances. Die Lesungen bilden einen Schwerpunkt, laufen parallel zu den anderen Programmpunkten und werden die thematischen Vorgaben, soweit vorhanden, teilweise durchbrechen ('Literatur als Schlag ins Gesicht'). Im folgenden einige der möglichen Themengebiete: Veranstaltungsort: Das Stille Museum, Linienstraße 154a, 10115 Berlin, Fon: 030/2807700, Fax: 030/2807701. Während der gesamten Veranstaltung werden ausgewählte WWW-Projekte und CD-ROMs präsentiert.

Freitag, 30.5.

16.00  Tranquilizing Coffee Hop Shop. Roter Teppich, VIP-Lounge & Kaffeekränzchen in angenehmem Ambiente. Medien sind mitzubringen. Eintritt frei.
20.00  Hartmoderne Event mit DJ T-Ina und Eric Schmidt. im Eschschloraque, rümschrümp (Rosenthaler Str. 39). 
22.00  NETTOHOUZ Platten auf dem Teller im Eschschloraque, rümschrümp (Rosenthaler Str. 39). 

Samstag, 31.5.

14.00  stephan porombka & hilmar schmundt: anmerkungen zu mythos und kult der gegenkultur, Dr. Sabine Helmers, Heiko Wichmann: 10 Thesen zur audio-visuellen Codierung von Wirklichkeit, Dirk de Pol: memetik oder wie wird die weltanschauung sexy Harry Hass: Der letzte Kanister, die glücklichen arbeitslosen auf der suche nach unklaren ressourcen
16.00  Verstärker: Von Strömungen, Spannungen und überschreibenden Bewegungen, Enno E. Peter: POP-DIY (Publizieren Ohne Papier. Do It Yourself), Pakt: Die Jugendkulturbeobachter, POP-Gespräch mit E. Maas / Pakt / E. Peter / U.Schleth / Verstärker Salbader: Ein Kleinod nachdenklicher Spaßkultur, Shelter Performance Group: hommage à brock 
18.00  Florian Cramer & Herbert A. Meyer: Betriebshof Internet, Mario Mentrup: Corporate Identity - ein Erlebnisbericht, Dr. Heinrich Dubel: Helicopter-Bericht Andreas Hansen / Bert Papenfuß / Stefan Ret & andere: SKLAVEN Lesung & Gespräch, Jörn Luther: Veranstaltungskonzept SKLAVEN Markt, jörg foth: videojournal progressor
20.00  Gruppe M, Klaus-d.Michel (AWP SculpturePlan): SublimePrayers Ulrich Schlotmann, Ambros Waibel: Pulp Marburg

Sonntag, 1.6.

14.00  Susanna Mende: hypertext-elemente in den romanen "das buch von manuel" und "Rayuela" von Julio Cortázar, Mina Hagedorn: dagtolyse Tellheimer, Gernot Kamecke, Moritz Wulf Lange
16.00  Mark Hartenstein: Wiener, Verena Kuni: metamorphose im zeitalter ihrer technischen (re)produzierbarkeit, Wolfgang Neuhaus: Das Terrain des Cyberpunk. Neues von Gibson, Sterling, Stephenson  Tanja Dückers: Kobaltblau, Nick Grindell, Nina Petrick: Wunschbilder oder die Reise
18.00  Arnd Wesemann: Tanz/Theater/Internet, Rike Anders: Die Frau in Weiß, Knut Gerwers: the spirit of the p/age, Florian Cramer: Textautomaten Julia Solis: Spitting Image, Claudius Hagemeister: PoetripHop , Toni Vakuum
20.00  Ulrich Heinke: 5 Zwischentexte für Singer/Songwriter (video) Superbierfront: Superbierfront und die anderen Medien, Break-In-Chill-Out-Good-Bye

Preise

Freitag: 5,- DM, Samstag: 8,- DM, Sonntag: 8,- DM

Teilnehmer

Rike Anders, Stefan Beck, Frank Benz, BRUT, Monty Cantsin, Holger Castritius, Petra Coronato (Tongue Tongue Hongkong), Tanja Dückers, Florian Cramer, Claudius Hagemeister, Herwig Finkeldey, Knut Gerwers, Lothar Glauch, Buddy Giovinazzo, Nick Grindell, Ulrich Gutmair, Mina Hagedorn, Rob Hardin, Mark Hartenstein,  Harry Hass, Ulrich Heinke, Dr. Sabine Helmers (WZB Berlin), Heiko Idensen, Ralf B. Korte, Dr. Verena Kuni, luxus cont/contd, Erich Maas, Susanna Mende (Romanisches Büro), Mario Mentrup, Neid, nettohouz, Wolfgang Neuhaus, Pakt, Perspektive, Enno E. Peter, Nina Petrick, Albert Rindfleisch, Salbader, Eric Schmidt, shelter performance group, Sklaven, Julia Solis (Spitting Image, New York), Rüdiger Suchsland, Superbierfront, T-Ina, Toni Vakuum, Verstärker, Ambros Waibel, Arnd Wesemann, Heiko Wichmann, ...

Kontakt

Wir sind noch offen für jene, die das Programm mit ihren Beiträgen bereichern möchten. Dafür bitten wir um Zusendung von 1/4 Seite Beschreibung bis zum 20.5.1997. Außerdem benötigen wir dringend noch private und öffentliche Sponsoren für materielle und finanzielle Unterstützung, um unsere Unkosten decken und das Programm noch besser präsentieren zu können.
Hartmoderne c/o The Thing, Bergstraße 21, 10115 Berlin, Tel. 030/28391180, Fax 28391179, email hartmoderne@thing.de
Ulf Schleth Koordination/Konzeption, Tel. 030/28391180, email ulf@thing.de
Wolfgang Neuhaus Konzeption, Tel. 030/6244112, email foyle@zedat.fu-berlin.de
Sylvia Egger email 106135.3035@compuserve.com
Amsterdam: R . A . L . F ., email tzigani@dds.nl
Basel: Barbara Strebel, email bst@thing.at

Spendenkonto: U. Schleth (Verwendungszweck 'hartmoderne'), Berliner Sparkasse, BLZ 100 500 00, Kto.-Nr.: 950182362

Material

Eric Schmidt: "Linda" (Realaudio, 3.03 min.)
Wolfgang Neuhaus: "Am Nullpunkt derPosthumanität". Cyberpunk-Fragmente. 
Gary Wolf: "The Curse of Xanadu"
Hartmoderne Software: Textmaschinen, Hypertext und mehr.
Stefan Beck & Oliver Halbe: "Das Verhängnis" (Realaudio, Sprecharbeit, 1.01 min.)
Stefan Beck & Oliver Halbe: "Peter spricht" (Realaudio, Sprecharbeit, 1.15 min.)
Für die Zeit bis kurz nach der Veranstaltung haben wir eine begleitende Newsgroup eingerichtet.

Presse

"Mit der Kerze ins Netz - Die Hartmoderne über Literatur im Internet"
Hannes Klug, Berliner Zeitung vom 5. 6. 1997

Ist Literatur auf dem Bildschirm so spannend wie Untertitel ohne Film? Das Vergnügen beim Lesen am Bildschirm, so der Medientheoretiker Florian Cramer, läßt stark zu wünschen übrig: Laufende Telephongebüren, Lüftungsgeräusche und die schlechte Auflösung der Schrift machten den Computer zu einem literaturfeindlichen Medium. Da im Internet keine Copyrights und keine Autorenhonorare vergeben werden, taugt für ihn das Netz höchstens als Tummelplatz ambitionierter Hobbyschreiber.
Ist das Internet eine kollektive Textmüllkippe, eine Art weltweites Poesiealbum? Oder passiert dort eine neue und aufregende Literatur? Entlang welcher Linien verlaufen die qualitativen Einflüsse medientechnische Veränderung auf das, was Literatur ist oder sein kann? Hartmoderne - Literatur, Virtualität und Medienkampf hieß ein "Forum zur Positionsbestimmung neuer Literatur in der Informationsgesellschaft", zu dem sich am Wochenende Schriftsteller und Theoretiker des digitalen Zeitalters im Stillen Museum in Berlin-Mitte einfanden.
Für eine eher vorsichtige Annäherung an die neuen Eigenschaften von Netzliteratur plädierten Harun Mayé und Markus Krajewski. Sie sind Herausgeber des Internetmagazins "Verstärker", einem akademisch orientierten Versuch des "Einstiegs in die Hypertextuellen Kulturwissenschaften". Tatsächlich, so ihre These, waren Texte nie als streng lineare Sinnzusammenhänge organisiert, und die zentralen Kennzeichen des klassischen Hypertextes - das Aufbrechen der Hermetik, der Umgang mit Textbausteinen und das Springen über links - führen für sie eher zur Wiederbelebung von herkömmlichen, philologischen Debatten. Der offene Aspekt des Textes stelle an sich noch kein neues Phönomen dar.
Für Herbert A. Meyer ist schon die Bibel der exemplarische Hypertext, da sie wesentlich über Querverweise funktioniert. Die einzelnen Bücher der Bibel zitieren frühere, namentlich das Neue Testament versteht sich als Erfüllung des Alten; und hier wie dort verbürgt der Bezug die Wahrheit der Schrift.
Angesichts der strittigen Frage, inwieweit Computertexte tatsächlich über besondere Eigenschaften verfügten, war eine generelle Tendenz zu spüren, die Frage nach dem Wesen einer neuen Literatur auf die kulturelle Praxis ihrer Herstellung oder Rezeption zu verlagern. Allerdings stellt das Internet zwar die differenzierte Möglichkeiten der Veröffentlichung bereit, aber die im Stillen Museum vorgetragene Literatur bezog ihre Protagonisten weiter aus dem Bereich der traditionellen Off-Szene.
So kam es zu dem etwas bizarren Phänomen, daß sich aufwendige multimediale Präsentationen mit dem Vortrag von zerfledderten Manuskripten bei Kerzenlicht abwechselten. Knut Gerwers stellte etwa am Sonntag mit "the spirit of the p/age" seine avancierte biographische Website über den Underground-Künstler Robert Calvert vor, die Bild-, Text-, und Audiomaterial zu einer vielschichtigen Collage verknüpfte. Ähnliches galt für Rike Anders und ihren Vortrag "Die Frau in Weiß". Vorträge von Julia Solis, die einen Text aus ihrem New Yorker Underground-Magazin "Spitting Image" las, von dem Dichter Harry Hass oder der Gruppe Salbader waren eher dem analogen, subkulturellen Literatentum zuzurechnen.
Wo also ist das literarische Potential der Computernetze wirklich zu sehen? Gibt es so etwas wie ästhetische Neuerungen mit mehr Substanz, als sie eine einfache technische Spielerei zu bieten hat? Letztlich liegt für Mayé und Krajewski das zentrale Merkmal der Netzliteratur in einem autarken Leser, der den Text als Rohmaterial aus Bausteinen versteht und daher aben weniger ein Leser als ein Benutzer oder Sammler ist. Dann wäre das Internet mehr Ausgrabungsstätte und Recherchepool denn Lesevorlage.
Widerstandskonzepte und anarchische Netzphantasien lösen sich laut Stephan Porombka nicht nur angesichts von zunehmendem Kommerz, sondern auch durch die Ausdifferenzierung des Ich im Zeichen weltweiter Kommunktaion auf - einem "Zerreißen der Identität", das der multiplen Persönlichkeit nahekommt. Veranstaltungen wie diese, recht informell in Privatinitiative und ohne Sponsorengelder organisiert, mögen solches auch weiterhin verhindern.

"Vom Videofestival zum Transmedia-Event"
Sabine Helmers und Armin Haase in Telepolis, 3. 6. 97

... Die zeitgleich in der Volksbühne zelebrierten Jugendmusikfestspiele unter anderem mit Gudrun Guts Ocean Club, Friedrich Kittler und Club Netz sowie auch die atmosphärisch dichte Veranstaltung von The Thing "hart.moderne. Literatur, Virtualität &Medienkampf" im Stillen Museum bildeten mit dem Videofest ein Veranstaltungsdreieck, das zum Pendeln einlud ...

Links

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Credits

Contrib.Net Maas Verlag tesof

Concept AV, Stephanie Coriat, Frank Ender, Jutta Franzen, Cristina Moles Kaupp, Jens Radloff, Reclam, Claudia Reinhardt

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