Im Moment eines kulturellen Umbruchs werden an die Literatur neue formale UND inhaltliche Anforderungen gestellt. Die neuen Technologien bieten Möglichkeiten an Themen und Territorien für 'neue' Experimente. Welche Muster bilden sich? Es entstehen neue Perspektiven für Literatur, die aus dem fruchtbaren Boden eines sterbenden Undergrounds wächst, wenn man die neue Öffentlichkeit des Internet berücksichtigt. Die überkommene Hierarchie des Betriebssystems Literatur kann verändert werden. Es entstehen Möglichkeiten, Bücher, Periodika und andere Werke zu vertreiben, in elektronischen Zeitschriften und Fanzines zu publizieren, zu diskutieren und der Weltöffentlichkeit ein reifes Ei ins gemachte Nest zu legen. Der erste Literaturwettbewerb für das Internet, den die ZEIT veranstaltet hat, hätte Probleme und Chancen einer Hypertext -- Literatur aufzeigen können, einem Ansatz, der `nichtlinear` und `vernetzt` sein will. "Literaten und Autoren gehören ganz selbstverständlich zu den ersten," schreibt der Schriftsteller Peter Glaser, "die sich im Internet zu hause fühlen. Es trägt den Glanz der grossen Neuigkeit, während die Literatur ein bisschen angestaubt erscheint --- aber gemeinsam sind sie vorzügliche Technologien des Unfassbaren."

Die technischen Medien werden weiterhin zu Katalysatoren des künstlerischen Prozesses, da sie ganz neue Materialien zugänglich machen, in den Prozess einfliessen lassen können. Technologien erfinden sich ständig neu --- notwendig wird eine neue Haltung des Autors, der seine Arbeit beschleunigt, um neue "Informationsbedingungen" auszuwerten und mit komplexeren "Werkzeugen" des Schreibens den neuen Bedingungen gerecht zu werden. Natürlich ist ein Ruf nach Beschleunigung ambivalent. Die Frage ist, ob mit Hilfe der Technologien ein produktiver Zusammenhang von Erleben, Intelligenz, Wissen (Informationen) erzeugt werden kann, der die individuelle Position des Autors stärkt und ihn an immer mehr Prozessen (medial) teilhaben lässt.

Welche Themen sind in Sicht ? "... diese Krise ist eine nie dagewesene Chance, unseren Geistesplunder loszuwerden," meint der Schriftsteller und KI -- Theoretiker Oswald Wiener, "Die Kleinheit des menschlichen Charakters, die Folgen daraus für das `Zwischenmenschliche`, darüber haben wir eine ungeheure Bibliothek, ich glaube nicht, daß es Sinn hat, der noch etwas hinzuzufügen, nur weil es dafür ein je modernes setting gibt." Eine Aufgabe für die Hartmoderne wird sein, einen Blick zurück auf Traditionen zu werfen, in der Literatur und Technologie in Beziehung gesetzt wurden, aber auch Versuche zu dokumentieren, die nach vorne tastend sich bewegen, um eine Literatur der Zukunft zu finden. Welche Formen wird die Verbindung des Wunsches nach (Selbst)Ausdruck und den neuen Möglichkeiten der Technologie annehmen ? Wird die Literatur in etwas Neues transformiert, das (multi)medialen Charakter hat ?

Literatur befindet sich im Medienkampf. Es stimmt, dass andere visuell orientierte Medien einen hohen Reizwert haben, der die eher `stille` Schreib- und Rezeptionshaltung der Literatur unterläuft, aber vielleicht entstehen durch die `Sprachlosigkeit`, die `Effekt -- Gewitter` der Clips und Spots neue Sinn -- Räume, die die Literatur besetzen kann. Es ist dabei klar, dass sich literarische Techniken selbst verändern, und jüngere Autoren selbst die Sprache anderer Medien nachahmen, um neue Wirkungen: schnellere, vielschichtigere Wahrnehumgen zu erzielen. Zu diskutieren ist, inwieweit solche Versuche, die teils auch mit inhaltlichen Schockeffekten einhergehen, erfolgreich sind.

Literatur wirkt deshalb längerfristig, subtil, hat Teil an der Veränderung von kulturellen Einstellungen. Kunst ist "Fenster öffnen" (Klaus Theweleit), das "emotionale Durchschütteln", das Betreten eines

neuen Raumes. Literatur ist Lebenselixier, Traum, Revolte. Auch Spass, (Selbst)Ironie, (manchmal nur) Stil. Und sie ist Wahn -- Sinn : sie nimmt die Wirklichkeit `ungefilterter`, schutzloser auf, mit Risiken. Literatur ist `Anarchie`, ein Zustand ohne Regeln, ohne Sinn -- Netz, der die Bereitschaft braucht, Freiheit gestalten zu wollen, ein `offenes Verhältnis` zur Welt.

Wo sind die vielfältigen Visionen, die auf andere Existenzformen verweisen, andere `Wirklichkeiten`, sieht man einmal ab von der Science Fiction, die in der Bundesrepublik von jeher ein Schattendasein führt ? Die

Existenz wird aufs Spiel gesetzt und braucht individuelle Entwürfe. Die Umgebung in der Imagination neu entstehen lassen (und die Geheimnisse ausweiten). Die komplexen Zusammenhänge der Welt drohen, das menschliche Vorstellungsvermögen zu überfordern; ein Bruchteil der Kenntnisse, die man bewusst gewinnt, stammen gegenwärtig aus eigener Erfahrung. Die Verschiebung zur (notwendigen) Medienrezeption kann literarisch neu `codiert` werden, im Angriff auf Erscheinungen oder der Analyse von Strukturen. Wenn die Medien zu einer "allgemeinen Fiktionalisierung in der Kultur" beitragen (James G. Ballard), ist es Aufgabe der Literatur, die Realität zu erfinden. Schreiben ist (Über)Lebensmittel, in der Überschreitung, im Verstoss gegen die Konventionen des allgemein festgezurrten Seins. Kunst ist in gewissem Sinn ausserhalb der Gesellschaft, aber auch verbunden, ist Vision, Experiment: die Gelegenheit, radikale Fragen (vor)zustellen. Die Langeweile, die Desillusionierung, der `Existenzdruck` bringt dazu, die Dinge in eine individuelle Vision zu transferieren --- das Abenteuer des Schreibens, das anders, "fremdartiger" wird ?


ALLES WIRD UNVORSTELLBAR.