Heiko Wichmann

Zur Virtualisierung der Kunst

Vortrag im Neuen Kunstverein Kassel (3. Januar 1995)

"Woman is the nigger of the world
We make her paint her face and dance"
John Lennon, 1972

Ich wurde eingeladen, einen Text für den Neuen Kunstverein Kassel vorzutragen. Das freut mich und scheint auch zu ehren. Symbolischer und sozialer Mehrwert ist da nicht ausgeschlossen. Aber abgesehen vom Prestigegewinn ist das auch eine Gelegenheit für mich, meine Eindrücke vom aktuellen und vergangenen Kunstgeschehen wiederzugeben. Das freut mich doppelt. Ich werde also den Zusammenhang erklären müssen, aus dem ich komme. Dazu muß ich weiter ausholen. Keine objektive Bestandsaufnahme, auch kein psychologischer Einzelfall oder eine soziologische Ausnahmeerscheinung soll das Ziel sein, stattdessen soll der Versuch unternommen werden, das amorphe Geschehen, das Treiben, Lust und Frust, das Selbstverständnis und die Kritik von außen, Ereignisse und Strategien anzusprechen, soweit ich das als immer etwas außerhalb des aktiv Kunst betreibenden Kreises stehender Beteiligter mitbekommen konnte.
Zunächst möchte ich vom Begriff der "Krise" ausgehen. Nach meinem Eindruck befindet sich das aktuelle Kunstgeschehen in einer Krise. Diese Diagnose - sofern es bereits eine ist - verspricht nichts Überraschendes. Mit dem Gerede von der Krise, die sich meist nicht auf viel mehr als eine vage Stimmung berufen kann, wird Angst erzeugt, die das Ganze am laufen halten kann. Die Krise verspricht ein gutes Geschäft, weil die Ansprüche und Erwartungen niedriger angesetzt werden können. Man kennt auch das Lamento, daß die "geistigen Werte" des Abendlandes verfallen, daß die Kunst im gesamtgesellschaftlichen Diskurs ins Abseits gedrängt wird (immer um ökonomische Legitimation bemüht). Mir geht es aber nicht darum, in den Chor der "Bewahrer des kulturellen Erbes" einzustimmen. Denn was von diesen Vertretern beklagt wird, ist der Verlust dessen, was sich zwischen regredierendem Atavismus und vorwärtsstürmendem Neo-Klassizismus ansiedelt. Der Verlust der Grenzen, der klaren Bestimmungen und Gegebenheiten wird beklagt. Was einmal als Strukturwandel beschrieben werden konnte, wird einfach alles zu viel. Der grundsätzliche Irrtum dieser Lehre (der Irrtum über den Verlust) zeigt sich beispielshaft da, wo die Feststellung des Erkenntnisinteresses über die Suche nach dem Konsens ihre logische Fortsetzung findet in voraussetzungslosem Glauben an Verfassungs- und Rechtsordnungen. Daß es auch dabei nur um Texte geht, die Auslegungen, Umdeutungen und oftmals gewaltsamen Suspensionen ausgesetzt sind, beantwortet nicht die Ursprungsfrage (Gewalt oder Diskurs?), aber es wird der Text als grenzenloses Ineinander von Zitaten bzw. Samples, von Lebenszusammenhängen und sozialen Verschiebungen anerkannt. Der Text ist überhaupt das Grundsätzliche! Wie immer das abschlußhaft zu verstehen wäre... Jedenfalls nicht der Geist, die Sexualität oder das Begehren, die Kraft, der Glaube, die Ideen, das Chaos, nicht einmal die Kreativität. Der Text ist das Grundsätzliche, weil er das Verhältnismäßige ist; er ist das Netz, das Gewebe (und kann auch mal eine Party sein). So meine ich, müßte das künstlerische Geschehen aufzufassen sein. Wer würde vom Verfall des Textes reden? Vom Verfall des Ausdrucks, des Stils, der Sprache - ja; aber nicht vom Verfall des Textes, da sich dieser - auch in der Krise - nur transformiert, andauernd transformiert, aber nicht im Aufstieg oder Fall begriffen ist. Aus dem Gefüge des Textes formen sich die Subjektivitäten, die Positivitäten, die Positionen und auch die Pole (macht.kraft.komplex). Die Ökonomie der Kunst läßt sich allerdings nicht als Konjunkturbewegung, als Genre, Handwerk oder Disziplin umgrenzen. Ihrem eigenen Begriff nach schließt die ästhetische Sphäre geschichtliche, soziale und mythische Vorgänge ein. Die Sprache der Kunst bewegt sich immer zwischen Traum und Wachzustand. Diese Gratwanderung ist nicht ungefährlich und kann auch in eine Sackgasse führen. Damit soll schnell auch Paranoia, Hysterie und Wahn angesprochen sein, da das alles rasch zusammenfallen kann, wenn keine Logik der Imagination mehr erkennbar ist.
Interessanterweise entstanden im gleichen Zeitraum (nämlich 1936) zwei theoretische Schriften zur Kunst: "Der Ursprung des Kunstwerkes" von Heidegger und "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" von Walter Benjamin. Heidegger soll hier nicht wohl gelitten sein, deshalb will ich mich an letzteren halten. Benjamins Stufung der Echtheit nach dem Kriterium des Hier und Jetzt kann heute nämlich aktualisiert gelesen werden.
Die Technik des Films stellt für Benjamin das Paradigma dar, nach dem sich die Verfügbarkeit, die Zugänglichkeit und die Ausdehnung des künstlerischen Raumes neu ordnet. Durch die neue Apparatur ist das Spiegelbild zerbrochen; der Schauspieler ist zum Relais der apparativen Anordnung geworden. Er spielt nicht direkt vor Publikum (online), sondern stellt sich dem imaginären Test durch die Masse (offline). Ob ein Funke rüberspringt, zeigt sich jetzt nicht mehr im direkten Feedback. Die Apparatur ist das Fenster, durch das der Schauspieler dem Publikum sichtbar gemacht werden kann. Ein völlig neuer Begriff von künstlerischer Darstellung und ästhetischer Repräsentation ergibt sich durch die technische Konfiguration. Benjamin hält sich in seinem Aufsatz mehr an das Kunstwerk als an die Funktion des Künstlers. Mir scheint die Position des Künstlers in Benjamins Aufsatz zwischen der des Schauspielers und der des Regisseurs zu liegen. Das Kunstwerk ist ihm das Ergebnis der technisch geforderten Anordnung von Personen und Requisiten (auch Requisiten können als Schauspieler auftreten, darauf weist Benjamin hin). Das Kunstwerk war in gewissem Sinne immer schon reproduzierbar; mit der Fotographie und dem Film ist jedoch nicht nur die Geschwindigkeit des Austauschs gestiegen, sondern vielmehr eine neue Qualität entstanden, die sich mit dem Verlust des Originals, dem Verschwinden der Aura anmeldet. Das Original der Fotographie und des Films ist die zur Vorführung geeignete Kopie (der Abzug). Das Gesellschaftsleben, das sich vormals um die Einmaligkeit des Kultwertes zentrierte, wird mit der erhöhten Ausstellbarkeit seiner ästhetischen Objekte um einiges künstlicher und fragwürdiger. In dem Aufsatz schreibt Benjamin: "Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. Da die letztere auf der ersteren fundiert ist, so gerät in der Reproduktion, wo die erstere sich dem Menschen entzogen hat, auch die letztere: die geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken." Für Benjamin verbürgt sich die Authentizität der Sache mit dem Hier und Jetzt, dem Auratischen, das sich auch als Unnahbarkeit verstehen läßt. Die Kunst erfüllt ihren Gebrauchswert, indem sie kultischen Zwecken (der Verehrung beispielsweise) dient. Da dieser Gebrauchswert in der Reproduktion verloren geht, stellen das Serielle, die Wiederholung, die Assemblage und die Montage nur formale Versuche dar, auf diesen doch historischen Notstand zu reagieren. Sie können nicht mehr als Werke oder Objekte klassifiziert werden, sondern stellen Differenzen her (zu dem Benachbarten, Ähnlichen, Verschiedenen etc.), die Markierungen im Gelände bilden. "Gerade weil die Echtheit nicht reproduzierbar ist, hat das intensive Eindringen gewisser Reproduktionsverfahren - es waren technische - die Handhabe zur Differenzierung und Stufung der Echtheit gegeben." Die Zeugenschaft verliert sich mit der klassischen Funktion von Kultobjekten. Dennoch lassen sich die künstlerischen Erzeugnisse auch weiterhin noch nach ihrer Echtheit bzw. Authentizität unterscheiden. Auch wenn es dabei vordergründig um die Interessen des Handels geht, ist damit ebenso die geschichtliche Dimension angesprochen. Der in der Renaissance profanisierte "Schönheitsdienst" läßt sich noch immer auf seine Wurzeln in der rituellen Praxis zurückverfolgen. Indem sich die Leute durch die Weltgeschichte zappen, stellen sie neue Zusammenhänge her. Interessanterweise sind die Kulte (die Hypes, die geheimen Verabredungen, die rätselhaften Übereinstimmungen) auch heute noch für das kulturelle Gesellschaftsleben strukturbildend geblieben. Inwieweit die kultische Praxis aber noch an Objekte gebunden ist, bleibt zunächst offen.
Daß mit der Lösung der ästhetischen Praxis aus dem rituellen Raum die Echtheit, die Authentizität fragwürdig geworden sei, hat einen reaktionären Aspekt: Götterbilder und Madonnenstatuen hätten in ihrer Exklusivität das Einmalige verbürgen können, während sich dieses in der massenhaften Vervielfältigung verflüchtige. Nur die Einmaligkeit, Ausschließlichkeit und Privilegiertheit garantiere, daß Kunst als solche genossen werden könne. Darauf zielt die in weiten Teilen verblüffend zeitgenössische Analyse Benjamins allerdings nicht. Zwischen Kultwert und Ausstellungswert unterscheidend, kommt er vielmehr zu dem Schluß, daß sich die Kunst mit ihrer gesteigerten Ausstellbarkeit notwendigerweise in den politischen Raum begibt (Testwert der Masse). Dabei zeigt sich, daß sich die Wertung "Kunst" als eine historisch vorübergehende Qualität herausstellen könnte. Denn wie die magische Praxis von den Kultobjekten abgezogen werden konnte, um sie in Übersee- und Heimatkunde-Museen ausstellen zu können, wird es sich eines Tages möglicherweise als historische Notwendigkeit herausstellen, den Kunstwert von den gegenwärtig reproduzierten Werken abzuziehen, um sie als (an sich) soziale oder heilige Realität anzusehen.
Diese paradoxe Erhöhung und Rückübersetzung der ästhetischen Praxis zeigt sich deutlich im Begriff der Apparatur. Die Übersetzungs-, Transformations- und Distributionsprozesse sind von der Apparatur durchdrungen. Das Paradoxale zeigt sich, wenn Benjamin - von der filmischen Wirklichkeit sprechend - sagt, daß sie den "apparatfreien [!] Aspekt der Wirklichkeit, den er [der heutige Mensch] vom Kunstwerk zu fordern berechtigt ist, gerade auf Grund ihrer intensiven Durchdringung mit der Apparatur gewährt." Die Apparatur rückt immer weiter in den Hintergrund, je weiter ihr die Durchdringung der Wirklichkeit gelungen ist. Die Kunst gerät in den Sog virtueller Realität.
Virtualität kann nicht als Verdopplung von Realität verstanden werden. Es ist keine Einteilung in erste, zweite, dritte etc. Welt, in Schein/Sein, Sinn/Struktur etc. Keine Binarismen, sondern Fraktale (die einem auch auf die Nerven gehen können mit ihrer plakativen Dummheit; auch in ihrer reduzierten Form eines gewundenen Techno-Tunnels). Virtuelle Ordnungen sind chaotisch, aber nicht regellos. Sie sind endlos. Die apparativen Strukturen ästhetischer Praxis, der institutionelle Rahmen und die Möglichkeiten einer weiteren DeNaturalisierung bzw. Ent-Ritualisierung der Kunst werden erprobt. In seinem Aufsatz spricht Benjamin davon, daß durch die Demokratisierung und Öffnung des ästhetischen Raumes jeder Mensch Anspruch auf Telepräsenz erheben kann. "Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden." Aber auch die Öffnung und Beschleunigung des Schriftaustauschs durch die Techniken der Reproduktion stand Benjamin vor Augen, wenn er erklärt, daß der Lesende jederzeit bereit wäre, ein Schreibender zu werden (durch Leserbrief-Seiten etc.). Der Passant wird für fünfzehn Minuten ein Star. Ist es aber wünschenswert, daß in die Urteilsfindung über ästhetische Werke jede Stimme einbezogen wird? Soll jeder hergelaufene Trottel über das Schöne mitbestimmen? Oder ist der ästhetische Meinungsbildungsprozeß notwendig exklusiv und elitär? Gehört eine besondere Geschmacks- und Sinnesausbildung dazu, sich künstlerisch zu äußern? "Das Kunstwerk als für den Sinn des Menschen dem Sinnlichen entnommen", lautet ein Unterverzeichnis bei Hegel. Virtualisierung spricht als Term den Komplex der Wertung und der Werte an (virtue), aber auch die Entwirklichung der einmaligen Sache, wie sie von Benjamin beschrieben wurde. Daß dieser Prozeß mit der Technik des Films (Benjamins Stand) nicht sein Ende gefunden hat, ist klar. Aus der gegenwärtigen Perspektive müßten die Parameter und Koordinaten umrissen werden, die das gegenwärtige künstlerische Schaffen aus der Mythologie/Ideologie einer naturgegebenen Kreativität entreißen, ohne es seiner Rätselhaftigkeit zu entkleiden. Unvorhersehbarkeit ist nicht nur eine strategische Option. Erst so können eine "Anzahl überkommener Begriffe - wie Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis - beiseite [gesetzt]" werden, schreibt Benjamin. Es bleibt sein Geheimnis, weshalb er das Geheimnis beiseite setzen wollte. Ich glaube nicht, daß es irgendeine Welt ohne Geheimnis geben wird.
Eine andere Zugangsmöglichkeit bietet sich an: Kunst als Raum der Kommunikation und Offenheit. Endlos läßt sich über die Qualität von Werken streiten, über die Rahmenbedingungen wird in Ausschüssen und Mitgliederversammlungen gestritten. Dabei zeichnet sich das Feld der ästhetischen Kommunikation gerade dadurch aus, daß es sich nicht an der Anzahl eingetragener Mitglieder ausrichtet, noch an vereinzelten Objekten hängen bleibt. Künstler reden über alles mögliche, dieses und jenes, und Kunsthistoriker reden selten über Kunst.
Offenbarungen oder Momente, die einem mit einem Schlag vieles klar zu machen scheinen (etwa weil für unvereinbar Gehaltenes Gemeinsamkeiten aufweist; ein kräftiger Zug da ist; etwas zum Zerreißen gespannt ist o.a.), erlebt man nicht im Mainstream. Im Mainstream werden Eigenschaften zusammengefaßt, kondensiert, aber nicht differenziert. Die Differenz im Mainstream ist der minimale Unterschied, der das eine Produkt vom anderen gerade noch unterscheidbar hält (aber noch genügend Ähnlichkeit aufweist, um es in ein Sortiment eingliedern zu können: beispielsweise der Unterschied zwischen "Pulp Fiction" und "Natural Born Killers"). So funktioniert der Mainstream. Das im Brainstorm oder im Katalog aufweisbare Neue wird kondensiert, zusammengefaßt und amortisiert. Dagegen gehen die Bestrebungen im diskursiven und nicht-diskursiven Raum ästhetischer Kommunikation gar nicht primär auf das Neue. Die Schwierigkeit, Kategorien zu finden, ist integraler Bestandteil wirklicher Kommunikation. Was gefällt und was gefällt nicht (und ist trotzdem gerade gut)? Wie soll das genannt werden? Geschmack, Sensibilität und Offenheit können niemals den sensus communis umgrenzen, sondern stellen Parameter des ganzen Geschehens dar. Und auch der Geschmack ist keine letzte Größe. Alles ist Zufall, so sehr daß es keine andere Wahl läßt. Der Zufall ist nicht das, was einem gefällt oder gerade gefällt, sondern alles was einem zufällt. Die Dinge, Ereignisse, Umstände und die Gelegenheiten konfigurieren sich zu einem Rätselbild, das über verschiedene Medien entschlüsselt wird.
So in etwa war die Situation, aus der heraus sich für uns die Notwendigkeit ergab, ein Magazin herauszugeben. Wir nannten es "Neid". Mit dem Titel konnten wir nicht nur an die Tradition der Four-Letter-Word-Zines anknüpfen, sondern auch den siebten Teil der Todsünden ansprechen. Wir hatten den Eindruck, daß die Diskussion um ein "anderes" Sprechen im Raum der Kunst erstarrt war. Es gab die Jünger der Hipness, Trash- und Dilettantismus-Kult, Kunst als Selbsterfahrungs-Trip, Kunst als Bastelei oder Zeitvertreib, als akademische Kür vor den Augen des Professors. Was aber vermißt wurde, war eine Auseinandersetzung mit der Kunst, die sich über die Anerkennung im traditionellen Raum der Ausstellbarkeit (Galerien-Szene etc.) hinwegsetzen würde. Arbeiten etwa Andrea Frazers waren zu systemanalytisch und immanent gedacht. Alles was uns über den Weg lief, alle Magazin-Veröffentlichungen (von der feministischen Diskurs-Zeitschrift über i-D und Face bis zu den Tageszeitungen, einfach alle möglichen Publikationen) gaben uns Hinweise für die Herstellung einer eigenen Zeitschrift. Aber wichtiger waren noch die persönlichen Auseinandersetzungen, die Begegnungen, die Lektüre-Erfahrungen, die jeder Beteiligte unterschiedlich durchlief. Mir war (und ist noch immer) die wichtigste Frage: was wird gedacht und was kann gedacht werden. Wieviel Freiheit im Ausdruck ist möglich (auch nach innen)? Wo verläuft die Grenze zwischen Bewußtem und Unbewußtem? Was ist Kommunikation/Information etc.? Anderen erging es anders.
Wir feierten eine Party zur Eröffnung der "sei dabei"-Veranstaltungsreihe. Frei nach dem Lotsenspruch: party for your right to fight. Mit dieser Veranstaltungsform haben die wirklich Kulturinteressierten aber offenbar ihre Schwierigkeiten. Sowas ist zu schnellebig, da kann man ja kein isoliertes Objekt beschaulich betrachten, und statt Kontemplation gibt es Trance. Daß dort aber wirkliche Kommunikation ausgeblieben wäre, wirft ein Licht auf die hiesigen Verhältnisse und die gesteigerten Erwartungserwartungen. Da lief schon auch viel auseinander. Das Gerede war jedenfalls groß (und die Einbildungskraft auch). Mit der Zeit stellte sich der Publikationsraum, den eine Zeitschrift bieten kann, für uns immer mehr als ein Mix aus Bild, Wort und Ton heraus. So erschien die zweite Ausgabe etwa mit einer beigelegten Vinyl-Single von Ina, um eine akustische Variation von Erfahrungen zu bieten. Und mit der dritten Ausgabe konnten wir dann sogar von der Schwarz/Weiß- in die Farb-Dimension überwechseln.
Theoretisch läßt sich der Background unserer Zeitschrift vielleicht aus der Kombination von Cyber und Feminismus erklären. Wir waren mit die ersten, die im deutschsprachigen Raum die Theorie zur Geschlechtsidentität (J. Butler) und computer.netzwesen vorstellten. Mit dem Erscheinen unserer Zeitschrift feierten wir das definitive Ende der Macho-Kunst. "Neid" ist das kollektives Produkt verschiedener Strömungen und Initiativen, wie schwer auch immer der Zusammenhalt zu definieren ist. Uns schwebten andere Vorstellungen von Politik vor. Masse und Rausch sind interessant, aber kein allgemein gültiges Kriterium für politische Bewegungen (68 nicht und beim Techno nicht). Wir haben ein erweitertes Verständnis von Gegenöffentlichkeit. Dazu gehört z.B. die interessante Frage, ob Frauen eine Minorität bilden. Lacan meinte, daß die Frau gar nicht existiere. Ist sie nur ein Schattenbild, ein Phantomwesen? Klischee für alle möglichen segmentierten Frauenzeitschriften. Ist das "Bildnis der totalen Frau" an die Stelle des "totalen Mannes" getreten, wie Lefebvre aus den Frauenmagazinen herauslas? Weibliche Identität ist ein Traum verschiedener Fabrikanten. Sie macht sich am Streit (zwischen den Geschlechtern) fest. Der ominöse §218 bildet noch immer einen zentralen Kampfpunkt. Wie kann sich aus der Forderung nach seiner Abschaffung eine andere als administrative Kraft entwickeln? Als wir die dritte Ausgabe machten, lag bei mir "Women & Revolution" rum, ein Campus-Spartakisten-Blatt aus Berkeley. Die Stärke unseres Zusammenhaltes zeigt sich auch daran, daß das Projekt trotz der verschiedenen Quellen auch ohne vorgeschriebenes Programm seinen Weg wußte.
Den Schwerpunkt bildeten anfangs jedenfalls die "Gender Trouble" von Judith Butler. Für mich bildet dieser Diskurs (Donna Haraway u.a. eingeschlossen) eine Fortsetzung der Diskurstheorie von Michel Foucault und der "Subversion des Begehrens", die Lacan in die Psychoanalyse trug. Mit beiden Theorie-Strängen wuchs ich gewissermaßen akademisch auf. Immer geht es darum, eine Ebene aufzuweisen oder zum Sprechen zu bringen, die vor der Institutionalisierung liegt. Nicht daß es eine ungezügelte Kreativität gäbe, die von den gesellschaftlichen Kräften gebunden und territorialisiert würde. Vielmehr ist es ein Schweigen, ein Nicht-Ort, eine Abwesenheit - woher die Dinge ihre Richtung nehmen. Natürlich ist es nicht unsere Absicht, ein Vakuum zu füllen. Aber auch die Reproduktion der Sinnleere ist zu stumpfsinnig. Dazwischen muß man sich bewegen und die Spielräume ermessen.
"Neid" ist für mich nur ein Aspekt künstlerischer Artikulation. Weiterhin wichtig für mich war/ist die Diskussion in "The Thing", einem daten-elektronischen Salon-Verbund zwischen Köln, New York, Berlin, Frankfurt, Wien und Hamburg. Auch daran hatte ich gedacht, als der Titel "Virtualisierung der Kunst" festgelegt wurde. Inzwischen ist zwar entschieden, daß "The Thing" ebensowenig ein Kunstwerk ist wie das Telefonnetz, mit dessen Hilfe es betrieben wird. Aber der Austausch über das künstlerische Milieu hat sich durch die Installation des elektronischen Salons geändert. Die virtuelle Gerüchteküche ist um einen Anbau erweitert worden. Mittlerweile gibt es auch andere Szenarios virtueller Welten: die Villa, das Hotel, der Marktplatz, der Club, das Schiff, die Raumstation. Das intellektuelle Niveau ist mit der Komfortabilität von Benutzeroberflächen oder der Verstiegenheit konzeptueller Erklärungen nicht unbedingt gestiegen. Um abstrakte oder allgemeine Aussagen treffen zu können, muß eine Intimität da sein. Intimität ist nicht die permanente Anwesenheit, sondern eine Verläßlichkeit, die sich sowohl im Virtuellen wie im Realen mitteilt. "The Thing" ist in diesem Sinne nur eine elektronische Ausformung einer bestimmten, aber nicht eindeutig umgrenzten Szene, die sich an verschiedenen Orten über den Weg läuft. Hipness- und Angesagt-Kriterien spielen eine größere Rolle als bei "Neid". Während "Neid" auf Nachbarschaftlichkeit bauen kann (z.T. durch die Kunsthochschule), ist "The Thing" der internationalistische Tummelplatz für die avanciertesten Geister ohne festen Ort.
Die Bohème der Zukunft. Entscheide Dich: wired oder tired. Die Avantgarde des Electro-Kommunismus. Information ist frei. Durch die elektronische Architektur ist eine Distanzierung im Austausch möglich, die gerade weil sie die alltägliche Gesprächs-Spontaneität aussetzt, intensiver auf der Ebene der Sachhaltigkeit ansetzen kann. Aber auch Ströme, Flüsse, Turbulenzen und Fluchtbewegungen gibt es da. Und nicht zu wenig. Denn schließlich wird da eh Text nicht mehr gelesen, sondern in hohem Tempo durchgescrollt. Fenster öffnen sich und schließen sich.
Der Spiegel und das Fenster. Magritte hat vielleicht mehr mit dem Fenster zu tun als mit dem Spiegel oder dem Kalligramm. "Das Problem des Fensters ergab »La Condition humaine« (So lebt der Mensch). Vor einem Fenster, das vom Innern eines Zimmers aus gesehen wird, stellte ich ein Bild, das genau den Teil der Landschaft darstellte, der von diesem Bild verdeckt wurde. Der auf dem Bild dargestellte Baum verdeckte also den Baum hinter ihm, außerhalb des Zimmers. Er befand sich für den Betrachter gleichzeitig innerhalb des Zimmers auf dem Bild und draußen in der wirklichen Landschaft. Diese Existenz in zwei verschiedenen Räumen zugleich ähnelt der Existenz eines identischen Augenblicks in Vergangenheit und Gegenwart, wie das beim »Déjà-Vu« geschieht." (Magritte, Schriften, S. 87) So trifft man im Netz immer wieder auf Partikel, die das erste und zweite Sprechen durcheinanderbringen. Subjekt und Objekt durchlaufen merkwürdige Vertauschungen. Ich hatte einen Monat lang Msgs hochgeschickt, ohne daß sie wirklich in den Strom der Mitteilungen einsortiert wurden. Die zurückströmende Flut an Mitteilungen interpretierte ich dann irrtümlich, aber fest überzeugt als indirekte Entgegnung auf meine gar nicht einsortierten Nachrichten. So ist der virtuelle Raum der abstrakten Begegnungen auch nicht frei von Vorurteilen und Projektionen. Die Partikulation der Identität durch Anonymisierung (ohne Geschlechtsidentität, ohne ethnische Stigmatisierung, ohne Alters- oder Klassenhierarchie) trifft zum Teil nur zu. In Wirklichkeit schreibt man ohne Gesicht. Der mimetische Ausdruck muß dazu imaginiert werden. Eine Sprache zwischen Mündlichem und Schrift. Das sind die neuen Allegorien des Lesens, mit oder ohne implizitem Leser. Einer schreibt etwas im Rausch, die anderen kommentieren mit kurzen Einsprengseln. Dabei sind die Ströme nicht durch eine wirkliche Räumlichkeit mehr verbunden. Ein Bild verdeckt das andere, so daß aus der Überlagerung eine neue Wirklichkeit entsteht. Es müßte eine Form gefunden werden, die Stufen der Konkretion des Textes codiert und aufschlüsselt. Das wäre das Problem von Artikulation und Ausdruck, mit dem sich die jetzt als Systemtheoretiker firmierenden Gestaltpsychologen herumschlagen dürfen. Die Fenster, die Ausblicke, Freiheiten, Intensitäten, Perspektiven sind allerdings keine Metaphern, keine symbolischen Gestalten, sondern abstrakte Maschinen.
Mit der subkulturellen Kommunikation ist ein Versprechen verbunden. Mit TUI-Reisen auch. Insofern muß man vorsichtig und erfinderisch sein. Es gibt verschiedene Items, die im vollständigen Programm ästhetischen Genusses nicht fehlen dürfen: das Begehren, der Spaß, die Subversion, die Situation, die Dissidenz, mit den Renegaten und den Herätikern, die Spontaneität, die Intensität, die Heteronomie. Und die topologische Ordnung dazu: der Rand, die Spitze, das Kleine, das Extreme, das Schräge, das Verworfene etc. Das sind Komponenten eines Geschehens, die auch wirklich in unterschiedlicher Gewichtung immer wieder vorkommen. Im Fluß des Geschehens lassen sich aber einzelne Begriffe nur schwer extrapolieren. Sprache besteht ja auch nicht allein aus Begriffen, sondern ebenso aus Gesten, Gedanken, Vorstellungen. Ein freier Gebrauch der Ressourcen kann sich nur aus der Situation ergeben, aus dem Moment, nicht aber aus Erklärungen. Vielleicht fehlte den Kulturbeflissenen bei "sei dabei" die online Hilfe. Wie dem auch sei, das Rätselraten über den (übrigens unabhängig von "dagegen/dabei" entstandenen) Titel dauert weiter an.
Nachträglich lassen sich einige Koordinaten von Situationen wiedergeben, als wären sie einem immer schon exponierte Punkte gewesen; dabei haben sie sich erst in der Erinnerung herausgebildet. In der Wahrnehmung ist alles möglichst gleich weit voneinander entfernt. Zuerst sind es nur Stimmungen (was ist der Unterschied zu vibes?), die keine klare Kontur besitzen. Die Leute verharren ja auch nicht auf ihren Plätzen, sondern bewegen sich, fahren rum, reisen, und bringen Sachen aus anderen Gegenden mit. Die permanente amerikanische Hipness-Frage, ob man an dem Platz sei, wo man zu sein hat, spielt keine Rolle, wenn man eine Aufgabe hat, oder auch verliebt ist. Dann wird alles zum Spiel, in Selbstüberschätzung kinderleicht und die glücklichen Zufälle reichen sich die Hand. Es gibt keine Rätsel mehr, alles ist sonnenklar. Wer mitmachen will, kann mitmachen. Sollte jemandem das Programm nicht explizit genug sein, kann er's auch sein lassen. Zu gewinnen gibt es nichts außer der Möglichkeit, im medialen Raum aufzutauchen. Mal seh'n was passiert. Aber wer scharf ist auf Publicity, Anerkennung oder Konkurrenzdenken kann gleich wieder gehen. Willkommen sind alle, die mit der gegenwärtigen Situation unzufrieden sind, und etwas anderes wollen. Ein neues Magazin ist das richtige Vehikel, um etwas in Gang zu bringen. Ein paar Turbulenzen mehr, Irritation, Verwirrung, Verehrung, Idolatrie und Kitsch, Intellektualität und Antiakademismus. Die beteiligten Künstlern hatten genug von den Meisterallüren der Hochschulprofessoren, und ich wollte eine Zeit lang aus der verschlafenen Bücherburg ausreißen.
Unser Gadget war der Sex, unser Fenster war die Geschlechtsidentität. Die Pornoindustrie beginnt extraterrestrisch zu operieren, während die post-psychoanalytische Theorie die Identität der Geschlechter immer radikaler in Frage stellt. Die Paradoxie: daß die Industrie, der Mainstream und das allgemeine, dumpf vor sich hin dämmernde deutsche Bewußtsein (incl. Unbewußtem) offenbar keine Schwierigkeiten haben, ihr Objekt (Ware/Fetisch?) zu identifizieren, auf der anderen Seite aber die avancierte Theorie und die subkulturelle Praxis eine Vielzahl von Geschlechtern freisetzen - das entzündete unseren Schaffenstrieb. Der Text ist ein Verhältnis, auch der Sex ist immer ein Verhältnis zwischen den Geschlechtern (Sex kann auch ein Verhängnis sein; das interessierte uns aber nicht so). An dieser Stelle will ich die Erörterung der psychoanalytischen Genealogie außen vor lassen - über Details im Theoriedesign machten wir uns (im Unterschied zu den langatmigen Seminaren an der Uni) auch weniger Gedanken. Diskussionen kreisten hauptsächlich um praktische Fragen der Herstellung, der Konzipierung, der Möglichkeiten etc. Die gemeinsame Arbeit an der Zeitschrift beflügelte uns. Langsam bildeten sich Interessensschwerpunkte heraus, die sich gegenseitig nicht ausschlossen. HipHop und Feminismus gingen in Gestalt von MC Lyte etwa eine Verbindung ein (die aktuelle Frage, ob man es handeln kann, daß sie mit Janet Jackson zusammen singt, ist ein Abgesang auf ihre underground reputation). Jam-Sessions und Vortragsreihen schlossen sich nicht aus.
Interessant war beispielsweise auch die "Ten Years After"-Veranstaltung bei Art Acker in Berlin. Filme der AAO-Kommune vom Friedrichshof wurden gezeigt, Theo Altenberg berichtete von den Fick-Plänen der Organisation. Wir schwankten zwischen der Anerkennung des Experiments (Ausstieg aus dem Zwang der Kleinfamilie; praktizierte freie Sexualität; Auflösung des Künstler-Mythos in Lebenspraxis) und Ekel vor der Naivität. Die Filme waren zum Teil ganz lustig und ungezwungener als erwartet, aber die Doku-Fotos zeigten uns ein anderes Bild. Die Befreiungskonzeption der AAO war (s. auch W. Reichs Orgasmus-Doktrin), wie uneigennützig und kosmologisch sie sich auch verstand, restriktiv und dogmatisch. Daß der Punkt absolut unschuldiger Erfahrung mittels Meditation, Selbstdarstellung oder Ekstase erreicht werden könne, erscheint uns nicht nur naiv, sondern ein gefährlicher Trugschluß zu sein. Die Darstellung des Verstellten kann nie nicht gestellt sein. Nachdem das Modell der Großen Revolution gefallen ist, kann es nur Transformationen geben. Den Sinn der Recodierung, Dekonstruktion oder Umwertung jeweils abzuschätzen, ist eine Aufgabe, die immanent vorgenommen werden muß. Da werden die Fragen nach der Authentizität gestellt: nach der Andersheit, Originalität, nach Eigenständigkeit und Eklektizismus, nach Stil und Vereinbarkeit. Einen Standpunkt außerhalb an- oder einzunehmen führt zur Unterwerfung und Versklavung. Und Sex war bei der AAO (im Gegensatz zur klassischen Psychoanalyse) ja sicherlich der metaphysische Pol, den Foucault Mitte der 70er als solchen herausstellte. Von Theo Altenberg stammen die Gleichungen: "Wiener Aktionismus = emotionale Enthemmung = Faschismus / Linker Aktivismus = emotionale Verkrampfung = Terrorismus / Rationales Handeln = emotionale Erstarrung = Diktatur" Das ist nicht die transformative Immanenz, sondern die Immanenz als Zwickmühle.
Eine Solidarität verband uns, die aus der Kreuzung von Cyber und Feminismus den Begriff queer herauslas. Und auch dieser Begriff war nicht unverbunden, sondern verwies in unserem Gruppendiskurs auf Anderes. Nicht so werden wollen wie die anderen, und nicht die Differenz zum Anderen unterschlagen. Keine Norm anerkennen, aber auch nicht der Indifferenz verfallen. Balancierte Leidenschaft. Respekt und Respektlosigkeit gleichzeitig. Diese Haltung führte dazu, daß wir lieber Parties als Diskussionsveranstaltungen machten. Nr. 1 wurde bei "Daniela" vorgestellt, Nr. 2 im "Purgatory" und Nr. 3 im "Westwerk". Das sind nur die Höhepunkte, zuzurechnen sind die ungezählten Auftritte zwischendurch. Auch das sind immer wieder andere Kontexte gewesen, die in der Auseinandersetzung um die Publikation ihre Fortsetzung fanden. Was wird veröffentlicht, was nicht? Was ist manifest, was ist latent? Im Gegensatz zu Vernissagen, die in Hamburg traditionell unlustig bzw. verkrampft lustig ablaufen, sind Parties Veranstaltungen, die mehr oder weniger zwanglos ablaufen können. Das Licht ist gedämpft und die Musik ist laut. Freunde und Bekannte treffen sich an verschiedenen Orten. Hamburg ist groß und die persönlichen Begegnungen haben - weil sie flüchtig sind und an wechselnden Orten stattfinden - besondere Signifikanz. Die privatistische Form des Umgangs mit den Problemen des urbanen Raums hat das Szene-Leben zum Teil allerdings auch in eine Erstarrung geführt. Alle beobachten sich gegenseitig. Diese etwas vagen Behauptungen müßten sich an den Lichtverhältnissen signifikanter öffentlicher Orte in verschiedenen Städten nachweisen lassen. In Hamburg herrscht jedenfalls ein grelles Licht. Mit unseren Release Parties wollten wir das brechen.
Die beste Party war wahrscheinlich "Du bist der letzte, der so ist wie du" (zu der Barbara das Plakat gemacht hatte). Als DJs hatten wir Swound Park Sound System aus Wien eingeladen gehabt, und Barbara hatte ihre Leute mitgebracht. Es gab in zwei Räumen Musik, und im dritten hatte Claudia ein Fragezettelspiel zu queer identity installiert (mit Helium gefüllte Luftballons trugen Kärtchen an ihrer Schnur). Ina zeigte Porträts von HipHop-Aktivisten, die sie auf Jams getroffen hatte. Es war ausgemacht gewesen, daß die Ausstellungseröffnung auf Kampnagel mit Musik und Getränkeverkauf stattfinden würde. Es lag einfach in der Luft. Und es war auch tatsächlich ein umwerfender Erfolg. Unglaublich viele Leute kamen, man traf viele bekannte und unbekannte Gesichter, freute sich für den Abend. Eine Fensterscheibe ging dabei zu Bruch.
Als Party-Veranstalter begreifen wir unsere Aufgabe aber nicht (auch wenn es in der zweiten Ausgabe als eine unserer Berufsbezeichnungen so aufgelistet steht). Es ist ein tolles Gefühl, erfolgreiche Parties zu veranstalten, wenn die Kollegen in ihrem akademischen Schlaf von Arkadien träumen. Und wir verstehen alle etwas von underground und independent. Das bleibt nicht aus in einer Stadt, in der die Bewegungen der Clubszene einen der wichtigsten Gesprächsstoffe und Lebensinhalte der Hip-Szene bilden. Musik ist Heilung, Musik ist Kommunikation. Die Leute stimmen ihre Gesten und gesten ihre Stimmungen nach dem Sound, Groove und Beat der Musik ab, die in den angesagten Kneipen läuft. Die Dialektik von Sehen und Gesehen-Werden. Das Leben in den Clubs verspricht etwas anderes, ein Traum-Ort, unreglementiertes Geschehen, Freundschaft, Abenteuer, menschliche Wärme. Das Andere manifestiert sich aber nicht im Clubgeschehen, wie es Bataille und andere in Bezug auf das Fest und die Feier sagten, als sie die Übertretung als Handlung der Negation bestimmten. Der Ausbruch aus dem Gefängnis Subjektivität wurde von ihnen als unbedingtes Ziel angesetzt, was die mystische Erfahrung wiederum zum bloßen Mittel machte. Das Andere ist Ergebnis des Zufalls und trifft auf uns in der U-Bahn, im Schlaf, im Zimmer, unter der Dusche, am Computermonitor; manchmal sogar an der Universität. Irgendetwas wird einem klar, man versucht es umzusetzen, und es wird etwas anderes daraus. So in etwa funktioniert ja die künstlerische Arbeitsweise.
Die Virtualisierung der Kunst ist der nächste Schritt nach der Abschaffung des Objektes. Der Künstler ist nicht das genialische schöpferische Subjekt, das Kunstwerk nicht sein glanzvolles Objekt. Kunst ist ein Reproduktionsprozeß mit Abjekten. Jenseits des Atlantik spricht man von der digitalen Ära schon als einer Zweiten Renaissance. Ein neues Aufblühen der Kunst. Das Bild der Kunst und der forschende Blick der Wissenschaft im Apriori einer neuen Apparatur. Die Fragestellungen der Mathematik, der Logik, der Anatomie bzw. Psycho-Physiologie, der Imagination, der Zeichensysteme und der künstlerischen Welten werden in den elektronischen Archiven der Zukunft zusammengefaßt. Mit HyperLink springt man von einem Punkt zum anderen. Der Künstler ist nicht mehr um den autonomen Schein bemüht, sondern begibt sich in Abhängigkeit von Arbeitsgruppen, Netzwerken, konzern- oder agentur-ähnlichen Strukturen, in deren Auftrag seine Kunst steht. Die modernen Fürstenhöfe vergeben Lizenzen. Damit gerät das Unternehmen zum strategischen Projekt mit immateriellem Gepräge. Die Aufgabe des Künstlers ist es dann, Dinge zusammenzutragen, ein Gespür für das Unbekannte zu haben, Stil zu besitzen, - was man auch Talent nennt (ein unmöglicher Begriff). Engagements sind projektgebunden. Galerien und Ausstellungsräume werden zu Agenturen mit virtuellen Zweigstellen. Jeder, der will, kann sich einklinken und wieder ausloggen. Schönheit und Oberfläche gehören unbedingt zusammen, sagt sich der Künstler, und macht sich an die Gestaltung von elektronischen Benutzeroberflächen. Alles piept, blinkt, summt und brummt, macht einen Höllenlärm wie auf der Enterprise, und ist mühelos mit der universalen Fernbedienung zu regulieren. Die Agenten im Netz. In "The Thing" wird - logischerweise - immer mehr über Mind Machines gesprochen. Wo ist das Verbindungsstück zwischen Gehirn und Denken, zwischen Software und Hardware? Der Körper als bio-chemische Schnittstelle im universellen Datennetz. Alles läuft selbstreguliert und autopoetisch: einfache Rückkopplungen zwischen Sender und Empfänger.
Wo bleiben da Möglichkeiten der Intervention? Die Wunschmaschinen können in Kaufhäusern erstanden werden. Und abstraktes Vorstellungsvermögen läßt sich heute mit einem Software-Bedienungshandbuch schulen, wie es sich vor einigen Jahren über den strukturalistischsten Strukturalismus herausbilden konnte. Ich glaube, man muß sehen, daß viele theoretische Versprechungen ihren materiellen Ausdruck gefunden haben (Hypertextualität; heteronome Datenräume etc.). Wir flanieren nicht mehr in Einkaufspassagen (wo auch diese, sehr schön in Hamburg zu sehen, als architektonische Pseudo-Realität wiedererbaut wurden), sondern bewegen uns durch Fenster und Türen hindurch. Auch ein Gesicht kann ein Fenster sein, durch das wir uns öffnen lassen. Es entstehen immer mehr virtuelle Welten. Das Fernsehen spricht nicht mehr den ganzen Gesichtssinn an, sondern geht direkt über Auge und Ohr ins Zerebrale. Die Koordinatoren machen sich die Lehre multipler Subjektpositionen zum eigenen Programm. Nicht mehr Geschichten sind interessant, auch keine Spots oder Clips, sondern die Fetzen, die nach Nanosekunden getimed und entsprechend der jeweiligen Tages- und Jahreszeit sind. Fernsehen und Radio werden zum Fenster, in dem wir die getreue Kopie unseres Tuns serviert bekommen. Rühren wir in der Tasse, rührt jemand auf dem Schirm in einer virtuellen Tasse. Scheint die Sonne, singt jemand im Radio, daß die Sonne scheint. Das beunruhigt gleichermaßen, wie es dem Medium einen neuen Sinn gibt. Verzweifelt suchen wir unsere Identität in dem Strom der Bilder, der uns angeboten wird, und immer rauscht es vorbei.
Das ist aber keine Virtualität. Der metaphysische Pol der Identität wird im Imaginären errichtet und verspricht die Lösung des Rätsels, die Aufhebung der Widersprüche. So wird Welt verdoppelt, aber nicht als Multiplizität erlebt. Die Wirklichkeit ist immer mehr als das, was auf einem Datenträger verzeichnet werden kann (zumindest gehört der Datenträger selbst dazu). Das Digitale ist nicht ätherisch, sondern hat seine eigene Sinnlichkeit, seine Fallgruben, Macken und Tücken. Intervention ist nötig, wenn die Maschinen störungsfrei zu laufen scheinen. Dann ist meist was faul. Oder umgekehrt. Soweit finde ich auch den CCC-Ethos in Ordnung, nur die Überprüfung von Sicherheitsvorkehrungen halte ich dann wieder nicht für interventionistisch.
Ich will mit ein paar Verdrehungen zum Thema Generation abschließen. Letztes Jahr war viel von der Unbekannten "X" die Rede, nicht nur von Malcolm, sondern auch von der Generation. Mit Generation ist die Erzeugung von Strom, die Gruppierung von Geschlechtern und die Distanzierung von der Vergangenheit gemeint. Wie auch immer die Soziologen die Typologie der Gegenwart klassifizieren wollen (Slacker, Prankster, Trippies...) - Generationen traten öfter schon mit Unbekannten auf: Blank Generation oder Lost Generation. Gab es nicht auch eine No Generation? Der Nihilismus ist dem Neuen, Radikalen immer eingeschrieben. Das ist die generative Form der Intervention. Das normale Programm beruft sich immer auf die Fülle des Sinns und stellt sich als stabiles System dar. In Wirklichkeit ist der Status quo aber nicht Generation, sondern immer schon De-generation. Das Prinzip der Generation läßt sich nicht über Verträge steuern, steht nicht still, läßt immer wieder Anderes entstehen, das im Moment seines Auftauchens an keine äußeren Regeln gebunden ist.