Ina Wudtke

Mut zur Peinlichkeit

veröffentlicht in Dank nr. 4 (1992)

Daß die Professionalität eines Zeichners (o. Schriftstellers, Künstlers u.s.w.) für die meisten unter anderem darin besteht, eine Trennung zwischen seiner Person und seiner Arbeit zu vollziehen, ist Tatsache. Es gibt allerdings auch immer wieder Profis, die keine so große Trennung zwischen privat und öffentlich ziehen.
In Kanada, England und Amerika gibt es ein paar junge Comiczeichner, die autobiographische Comics machen. (Einige von ihnen namentlich: Aline Kominsky-Crumb, Julie Doucet, Daniel Clowes, Mary Fleener,Seth, Peter Bagge u.a.).

Die autobiographische Form definiert sich als Darstellung des Lebens durch den, der es gelebt hat.
Eine Form, die das Leben als eine Totalität, aus Tat und Haltung an erster Stelle setzt, nicht das isolierte, abstrakte Problem.
Somit ist autobiographisches Zeichnen, Schreiben, Kunst machen eine Lebensform - kein Job. (Oder ein Job fürs Leben, Beuys: "I don't know weekends.") Selbst, im gesellschaftlichen Kontext, eine autobiographische 'Lösung' leben.
Chester Brown kommt aus Kanada und veröffentlicht seine neueren Hefte bei dem amerikanischen Verlag "Drawen & Quarterly", unter dem Titel 'Yummy Fur'.
Der Schnarchhippi, Chester Brown hockt viel in seiner Bude. Seine Realität ist sein winziges Zimmer, es ist so winzig, daß er beim Betreten des Raumes über die Ecke seines Bettes steigen muß.
Er zeichnet mit einem Brett auf den Knien, benutzt kein Lineal, macht fast alles mit dem Pinsel. Seine Darstellungen sind sparsam. Viel schwarz - das läßt eine Menge offen.
Chester Brown erhielt 1990 den Havey Awards Preis für 'Ed the happy clown', einmal als bester Zeichner des Jahres und einmal für das beste Album des Jahres. ('Ed the happy clown' ist eine Sammlung der ersten Yummy Fur Heft, die keine autobiographischen Comics enthalten.)
Die neueren Yummy Fur Hefte bestehen im groben zum einen Teil aus einem autobiographischen Comic, wobei der andere Teil eine Begebenheit aus dem Leben einer biblischen Figur schildert.
Die genauen Quellen dieser Stories gibt Chester in der Abteilung Leserbriefe an. Diese Leserbriefe stellen in jedem Heft zwei bis drei Seiten. Sie sind in Chesters Lettering abgeschrieben und beantwortet. Hier erfährt der Leser z.B. zu einer Story über 'Matthew' (Heft 15): "This first insalment of 'Matthew' was heavily influenced by a fabulous book by Jane Schaberg called THE ILLIGITIMACY OF JESUS (harper and row). It's one of the most exciting books on biblical interpretation I've ever read and I can't recommend it highly enough." Chester Brown zeichnet biblischen Stoff als einer, der mit der christlichen Religion groß geworden ist. Das ist nicht zu verwechseln mit Religiosität oder Kirchenverbundenheit. Das sind nicht diese Hefte, die man von der Kirche oder den Zeugen Jehovas in die Hand gedrückt bekommt, da wo die Welt noch in Ordnung ist.
Matthew bohrt sich gerade in der Nase.
Er sieht nicht besonders intelligent aus. Drei Waschweiber aus der antiken Welt, unterhalten sich gerade über Jesus' neuste Tat. Matthew sagt nur "praise god" - und frißt seinen Popel. Und dann kommt dieser dreckige Typ vorbei, mit einer Horde stinkender, halbblöder, ungewaschener Männer. Er sieht aus wie'n Arsch, sagt aber kräftig und bestimmt: "Matthew, follow me!" und der rennt hinterher. Hinter Jesus.
So etwa könnte es gewesen sein.
Chester Brown reflektiert, indem er sich selbst, seine eigene Meinung und wie er dazu gekommen ist, beschreibt.
"Doing the Chester" - yup!
Z.B. diese Geschichte über Playmatephotos, die ist schon SEHR TOLL.
1975, Chester ist so ungefähr 15, er hat gerade seinen ersten Playboy gekauft und versteckt ihn unter einem alten Brett in einem leeren offenen Feld nahe seines Zuhauses.
Er guckt morgens fern, hängt mit den Kids aus der Nachbarschaft herum. Ein kanadischer Feiertag. Am nächsten Tag muß er wieder zur Schule. Ein dumpfer Tag und er denkt oft an das Heft unter dem Brett. Es ist halb vier und Chester steuert auf das Depot zu. Sein zartes Teenygewissen flattert wie ein unsicherer, kleiner Chesterengel um ihn herum. Für den Anfang reißt er sich erst einmal nur das Wichtigste heraus und läßt den Rest im sicheren Versteck.
Die ' Playboystories ' gehen über drei Yummy Fur Hefte (21, 22, 23). Chester erzählt, in welche Abhängigkeit er sich über einen längeren Zeitraum zu Playmatephotos begibt.
Man muß sie verstecken, deponieren, heimlich kaufen, sammeln und wieder vernichten. Sich in der Phantasie festsetzende Posen und Körper, die man nie wieder vergißt.
Als Erwachsener stellt er fest, daß es einige Leute, die er kennt genauso gemacht haben. Aber die sprechen darüber ebenso wenig, wie er selber. Als er seiner Freundin erzählt, daß er bei dem Umzug eines Freundes in dessen Kommode zwei Gesamtjahrgänge von Penthouse gefunden hat, ist sie ernsthaft entsetzt - über diese Schwein!
Naja, Chester für seinen Teil fand heraus, daß er sogar Masturbieren in Gedanken an seine Lieblingsplaymate dem realen Vögeln vorzog. Oder, daß er sich beim Vögeln mit seiner Freundin Lou eine Playmate vorstellte. An einer Stelle meinte Chester dann: "My collection of photos of naked woman is hidden in my room. It's about four inches thick and contains exactly thirty playmates and fourteen girls from other magazines. If you visite me don't ask me to see them. -- It'd embrass me."
Es kommt nicht darauf an, ob es sich bei der künstlerischen Schilderung eines Privatlebens ausschließlich um Fakten handelt oder nicht. Und vor allem, was sind denn Fakten? - Was ist Sex?
Das was mein Körper da sportlich treibt? Oder das was meine kleinen Glotzies im Bunde mit der Phantasie aus den Körpertechniken machen? Oder die Phantasie, die ich mit einer bildlichen Technik entwickeln kann? Okay, okay schon gut Kleines!

Vielmehr ist es interessant, jemanden bei der Selbstreflexion über die Schulter zu schauen. Wie macht jemand etwas und nicht was macht jemand.
Darum geht es auch in dem "Selbstporträt" Chester Brown. Man folgt ihm echt gerne bei Stories, in denen er weiter nichts tut als aufstehen, pissen gehen, in der Nase popeln und Popel fressen.
Live, könnte man das wohl nicht so gut aushalten, vor allem was das Popelfressen angeht. Chester (ist doch egal, ob der Typ wirklich so heißt) ist schon ein komischer Typ.

Autobiographische, subjektive Comics schildern den in sich paradoxen Menschen, behängt mit vielen kleinen Peinlichkeiten, wie es einer psychische Wahrnehmung sich selbst gegenüber entspricht.
Gerichtet gegen eine Form, die von einem allgemein, öffentlichen Verständnis ausgeht, aus welcher alle möglichen verallgemeinernden Bezeichnungen und Diskussionen hervorgehen (z.B. Pornokonsument, Krimineller, Drogentoter, Aidsinfizierter, u.s.w.). Welche jeden Einzelnen auffordern, sie durch seine Autobiographie ständig zu erneuern.