Annette Wehrmann

Luftschlangentexte

25.10.96 oder 12.10.97

das ist allerwelt des Lesers Phantasie und Belieben überlassen, ich bin schlecht drauf, ich kann mich nicht konzentrieren und fülle mein Heft mit ganz sinnlosem Geschreibsel, beispielweise habe ich einen dumm blickenden Hund erspäht. Der dumm blickende Hund beobachtet eine Frau mit Baby. Je nun ... den vorausgehenden Tag hatte ich den ganzen Tag in einer Ufo-Zeitschrift gelesen, das sollte man auch nicht tun, kein Wunder, dass es mir die Sprache verschlagen hat. - Heute morgen hat mich der Wecker um 10 vor 7 aus dem Schlaf und einer Traumszene gerissen, in der ein Mädchen T.Shirts etwa in Nabelhöhe auseinander schnitt und dann neu zusammen klebte. Aus 2 mach 2 Neue. Ich war einen schlaftrunkenden Moment lang überzeugt, damit den Modehit der Saison landen zu können. Tatsächlich ist es das ja sowieso. - Und dann noch die kommunizierenden Röhren, die ausgerechnet im Heizungssystem meines Ateliers manifest geworden sind. Eine defekte Heizung, schon älteren Datums, die tropft und ächzt und stöhnt, und rauscht wie ein Gebirgsbach. Im Winter, wenn die Heizkörper in allen Zimmersn einheizen, sind die Räume ausser von diesem Gebirgsbach-Sound auch von flüsternden Frauenstimmen erfüllt. Das habe ich schon häufig gehört. In letzter Zeit ist dann der Heizkörper in der Küche von Ächzen und Stöhnen zu regelrechtem Schreien übergegangen. Neulich Nacht hat er angefangen, krauses Zeug zu erzählen. Er ist vom Commander eines im All befindlichen Raumschiffs zum Radioempfänger umfunktionalisiert worden. Kommunizierende Röhren, ich sag's ja. Der Commander sprach allerdings von Adapter-Problemen. Dies ist die Folge durchwachter Nächte. Gar nicht der Schlaflosigkeit geschuldet ist dagegen die weiße Brieftaube Jaqueline, die dazu die ganze Nacht gurrte. Das tut sie aber jede Nacht.

05.01.97

ein Ausflugs-Sonntag-Nachmittag auf den Landungsbrücken, das Wetter vergleichsweise warm, die Menschen alle so ausflüglerisch und auf der Elbe treiben die Eisschollen. Den Nahverkehrsschiffen kleben dicke Eisklumpen am Bug, wie Popel. Meine Hände sind auch aufgesprungen von der Kälte. 4x täglich Melkfett hält gerade so die Normalfunktion am Laufen, aber meistens vergess ich das. Dazu kommt, dass ich jetzt in der Kohleofenzeit eh den ganzen Tag mit Händewaschen beschäftigt bin. 4x täglich eincremen und 12x täglich waschen, was heisst waschen - scheuern, schrubben, und trotzdem bleibt der Dreck in den Hautfalten, das macht zusammengenommen ... also wieviel Stunden gehen täglich mit Handpflege herum? Könnte fast davon überzeugt sein, den ganzen Tag nichts anderes mehr zu tun. Die Leute rennen kreuz und quer und von links nach rechts vor dem Fenster herum, duch die Fensterritzen kriecht ein Streifen kalte Luft. Die Grundfarbe der Leute vor dem Fenster ist Schwarz, weil sie so besser gegen Schnee und Eisschollen kontrastieren. Aber bei Regen- und Matschwetter tragen sie auch Grundfarbe Schwarz, wogegen wollen sie da kontrastieren? Denke an die Küche einer alten Frau, für die ich mal gearbeitet habe. Neben dem Herd hängt ein gestickter Sinnspruch: versprich mir NICHTS. ... Jetzt könnte ich mir einbilden, eine Rede zu halten. Ich stehe vor einer grossen Gruppe Menschen und erkläre die Fotos von Larry Clark im MMK. Der Zusammenhang zwischen einem mit Junkie-Fotos tapezierten Kunsttempel in einem von diesem Personenkreis weitgehend bereinigten Areal, finanziert von einem bedeutenden Geldinstitut, das ist entweder diesseits diesseits oder jenseits des Begreifens, wohl doch diesseits und also noch unterhalb jener Ebene minimaler Komplexität angesiedelt, auf der Denken überhaupt erst stattfinden kann. So doziere ich in Gedanken vor mich hin, das alles in Zusammenhang mit dem Projekt, das ich vorbereite, Kunst im sozialen Kontext, was für eine merkwürdige Arabeske. Ende.

20.04.97

Sitzen und Geschäftsleute gucken, auch eine Beschäftigung. Und wieso sollte ich auch nicht? Material und Schnitt der Übergangsmäntel und der Sackos, Schuhe und Strümpfe, alles so business, dazu das Dekor im weiteren Sinne: die Reflexion einer Lampe in der tiefschwarzen, geschliffenen Glasplatte des Tisches, hübsch ist das, im Raum verteilt Arrangements von Männern unter sich, Geschäftsleuten, dazwischen gelegentlich eine oder mehrere Geschäftsfrauen, über allem Lärmkegel-Kegel. Vielleicht ist es ganz gleichgültig, auf welche Weise der Herr gegenüber an seinem Weinglas nippt, und der stechende Rundum-Blick des frühzeitig gealterten Enddreissigers am Nebentisch - er sass am Nebentisch und ist jetzt gegangen, um ganz genau zu sein - ist wohl auch nicht so sehr interessant. Desweiteren kann ich mir die Beschreibung der geröteten Gesichtshaut des älteren und vom Leben gezeichneten Herrn in Tür-Nähe samt Schilderung der ebenfalls gezeichneten Ehefrau sparen, und auch die sich aufdrängenden Spekulationen über mögliche Gründe, die zur Wahl dieses zugigen Sitzplatzes geführt haben mögen - Fluchtweg? Manche Leute rennen den ganzen Tag nur herum und warten darauf, dass die Katastrophe endlich eintritt. Nicht erwähnenswert, so wenig wie die Trendnahrung aus Salatblättern, Putenstreifen-Pasta und hoffentlich hochwertigem Olivenöl, die jetzt seriell in den Business-Menschen-Mündern verschwindet.

14.12.97

nach dem Symposium waren wir noch was essen, beim Inder im Hinterzimmer, schäbige, zusammengeschobene Resopaltische, die kaum den Durchgang zum Klo frei liessen, wir in die verbleibenden Zwischenräume gezwängt und vor uns Teller mit grüngelblicher Spinatpampe, und jemand sagte, er wisse einen genau solchen Inder in New York, und ich überraschte mich mich bei der Bemerkung, dies sei erschreckend. Keine Ahnung, ob ich das nun wirklich, und vor allem, was ich für erschreckend gehalten habe, dass in New York ein ebensolcher Inder wie in Berlin, oder umgekehrt, in Berlin einer wie in New York, und warum sollte das auch erschreckend sein, mit dem gleichen Recht und der gleichen Beliebigkeit, mit der man diesem Umstand eine spezifische fragmentierte Schönheit zuschreiben könnte, aber ich war verlegen, denn dies alles schien mir so charakteristisch für die soziale Maske, die ich schon den ganzen Abend und garnicht ungern an mir wahrgenommen hatte, weil ich diese Maske für eine durchaus funktionale Maske halte, das mag ein Irrtum sein, aber ich fühlte mich diesen Abend ganz wohl darin, wie in eine laue Wolke verpackt und als wir durch die Stadt gingen, fühlte ich, dass ich Teil einer Gruppe war, die von einem Ort kommend, sich auf dem Weg zu einem anderen Ort befindet und vorher noch an einem dritten Ort was essen geht.
Eine Groteske zum Thema (Masken) ist die Geschichte der Vorstadthündin in der Grosstadt. Die Vorstadthündin erlitt eine Art Zusammenbruch über dem Versuch, jeden Vorübergehenden schwanzwedelnd mit aufrichtiger Freude zu begrüssen. Was den Vorzug der Maske beweist oder des Bewusstseins, eins von beiden oder beides.

08.02.98

Sitze in der S1 Richtung Wedel, und es ist schon auffällig, dass, zu welcher Tageszeit ich auch auf dieser Strecke fahre, der Zug immer von diesen rotgekleideten HVB-Service-Leuten wimmelt, so auch jetzt, neben mir sitzen 2 dieser Herren (auch das ist auffällig, Frauen werden wohl nicht eingestellt) und unterhalten sich, worüber sie sich denn unterhalten, wie gesagt, immer zwischen Wedel und Altona, im Innenstadtbereich gibt es Sicherheitsdienst, sich athletisch dünkende junde Männer mit zusammengekniffenen Ärschen, und ich kann mich gar nicht genug über die unglaubliche Belästigung, die von diesem Personenkreis ausgeht, aufregen, sowohl war ihre Präsenz als auch was ihre jeweiligen Territorien angeht, die Sicherheitsdienste, wie gesagt im Innenstadtbereich, zum Bettler rauswerfen, im Sinne obrigkeitlicher Geisteshaltung ein must, vielleicht, weil die Leute Krimis lesen und dann mit soviel literarischem Input überfordert sind, ja dann sollen sie's lassen, niemand zwingt sie, sich die Bedrohungsszenarien anderer einzuverleiben, wenn sie schon mit ihrer eigenen Phantasieproduktion nicht zu Rande kommen und jeder Krüppel in der S-Bahn die Aufkündigung des Gesellschaftsvertrages verheisst und mindestens ein durchgeknallter Waffennarr da sein wird. BÜRGERKRIEG, sagt der Pfälzer dazu: BÜRGERKRIEG. - Da ist es nur konsequent, wenn auch die Vororte, wenn schon die Notwendigekeit kontinuierlicher Überwachung noch nicht gegeben scheint, unter sorgfältiger Beobachtung stehen, rotgekleidete Service-Sanyasins keep watching you, und keiner soll sagen, er habe von nichts gewusst, wenn wir demnächst in der S-Bahn zum Meditieren gezwungen werden. Thema Belästigung in öffentlichen Verkehrsmitteln, und dazu gibt es einiges zu sagen, und das ist auch auszuweiten, das Glück des Ausgefragten gehört dazu, und überhaupt ist die Belästigung eine interessante Kategorie. Warum freuen sich die Leute eigentlich, wenn sie in öffentlichen Verkehrsmitteln kontrolliert werden, ich würde das gerne zum Gegenstand einer allgemeinen Diskussion genommen sehen. Neulich bin ich im 111er-Bus zwischen Station S-Bahnhof Holstenstrasse und Lerchenwache von einer Dame angesprochen worden, die nach eigenem Bekunden keine Kontrollfunktion ausübte, aber von mir wissen wollte, was für eine Fahrkarte ich hätte, und zwecks Demonstration ihrer edlen Absichten mit einem grossen Statistikbogen fuchtelte. Ich habe sie natürlich eiskalt abblitzen lassen und damit einen lediglich individuellen, unbedeutenden Sieg errungen, der mich nicht einmal vor weiteren Anquatschereien schützen kann. In denen eine nicht unerhebliche Bevölkerungsgruppe ein Interesse an ihrer wie auch immer gearteten Meinung zu erkennen glaubt, was an dem Eifer, mit dem sie Folge leisten, leicht erkannt werden kann.