Julia Solis

Ich schlafe in Milch

Sie haben mir die Fotos gezeigt, die sie von den Experimenten an Frauen wie mir gemacht haben. Ich kann nicht erkennen, ob ich auf einem dieser Fotos bin. Ich erinnere mich nicht an mein Gesicht, an die Farbe meines Haares. Mir wird gesagt, ich wäre einmal sehr schön gewesen. An dies soll ich mich erinnern, ohne zu wissen, was ich damit anfangen soll.

Es gibt eine Erinnerung, mit der ich etwas anfangen kann: Ich schiebe sie in eine dunkle, verborgene Ecke und kaue daran mit Muskeln, die von den Medikamenten schon ganz zerlöchert sind. Es war ein Ereignis, das - wie ein beschädigter Aufzug - im Keller meiner Gedanken steckenblieb. Ich habe versucht, es mit mir an das Licht zu zerren, es zu zwingen, mich beim Aufstieg der Treppen zu begleiten. Das Treppenhaus war düster und verschmutzt. Ich wußte nicht, daß ich mit einem entflohenen Häftling in diesem Treppenhaus gefangen war, bis ich auf die in den Ecken hängenden Fernseher blickte und das Gebäude erkannte, in dem ich mich befand. Polizeiwagen umkreisten das Gebäude. Mein Treppenhaus - Gefährte sollte Live im Fernsehen geköpft werden, sobald er den ersten Schritt ins Freie nahm. Dieser Plan wurde von einer blassen, traurigen Ansagerin verkündet, die über ihrem linken Auge eine schwarze Binde trug. Ich hatte keine Zeit, mir über ihr Schicksal Gedanken zu machen. Zwischen ihren finsteren Worten hörte ich das schwerfällige Keuchen ein paar Stockwerke tiefer. Zu der Zeit konnte ich noch klare Gedanken fassen. Wie festgenagelt stand ich da und folgte einem anschaulichen Bericht über die geplante Hinrichtung des Sträflings. Eine Menschenmasse hatte sich schon im Parkplatz dieses Gebäudes versammelt, um das Ereignis aus erster Nähe erleben. Als ich das hörte, hatte ich keine Angst mehr vor dem Mann, der sich irgendwo unter mir befand. Ich hatte Angst, im Fernsehen seine Köpfung zu sehen. Diese Erinnerung hat einen Platz in mir gefunden, der so dunkel und klebrig ist wie das Treppenhaus. Hier hört es auf. Die Treppe prallt gegen eine Wand, ohne mir einen Ausweg zu gewähren. Ich komme weder rauf noch runter. Ich stehe auf einer kalten Zementstufe und inhaliere die Chemikalien, die man ausstößt, wenn man Angst hat. Ich fürchte mich davor, in die Rolle eines Voyeurs gezwungen zu werden.
Oder habe ich das schon gesagt? Meine Knochen werden weich. Meine Knie zittern an der Stufe der Erschütterung. Hat jemand je diese Füße liebkost, die zu jedem nächsten Schritt unfähig sind? Atme tief ein, sagt meine Betreuerin, wenn du dein Gesicht der Flut zukehrst.

Es gab einen Tag, an dem Emil und ich auf dem Gras lagen, im Schatten einer geköpften Kathedrale. Wir bewunderten die Art, wie die zackigen Turmkanten gothische Narben in den Himmel schürften. Und als ich mich auf meinen Bauch drehte, imitierte er das kokette Kratzen von dem Schattenriß des Turms, indem er einen gebrochenen Fingernagel über meinen Rücken zog. Diese Tage waren bezaubernd und licht. An diese Tage erinnere ich mich gut. Aber was mich in die schwarzen, unerforschten Wasser stößt - was ich vor lauter strahlend weißer Kacheln nicht erkennen kann - ist, warum ich an dem Morgen, nachdem ich das Atmen des Häftlings so deutlich vernahm - sah, daß er in meinem Bett geköpft worden war. Und mir wurde befohlen, aufzuwischen. Kann ich denn etwas dafür, daß ich beim Schrubben der Bettlaken versuchte, mir noch ungeahnte Lustgefühle vorzustellen? Kann ich die Schuld dafür den weißen Schleimsträngen geben, die sich weich und sanft von den Kissen zu dem Fußboden streckten, um endlich in der Blutlake zu versinken? Ich weiß, das kann ich nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ein Eimer steht neben mir, der mit dunklem, seltsam riechendem Wasser gefüllt ist. Ich rieche es immer noch, wenn ich mit meinen Lippen Milch berühre. Ich schrubbe die Laken und Kissen mit einem Schwamm. Ich sehe sie immer noch, wenn ich die Milch rieche: die blutgetränkten Laken, mit einem Geflecht aus schillernden, transparenten Fäden bedeckt. Ein Polizist spaziert durch das Zimmer und schaut mir bei der Arbeit zu. Er geht und kommt immer wieder. Mein Magen verhärtet sich zu einem Knoten, so groß wie meine Faust. Ich fragte mich, was ich denn verbrochen hatte. Können andere Leute das leichter begreifen? Meine Gedanken sind nie so durchsichtig wie der Schleim, der an unreinen Laken klebt. Als ich von dem Schrubben aufsah und aus dem Fenster blickte, sah ich eine Frau auf dem Hügel vor meinem Haus. Dort stand sie mit einem Fernglas und sah mir zu.

Ich habe schon so oft gefragt, wer diese Frau war.
Ich habe schon so oft gefragt, ob ich es war, die zusah.
Genau wie bei mir waren ihre Haare aus dem Gesicht zu einem festen Knoten gesteckt.

Foto "Milch" (Claudia Reinhardt)