Alexandra Filipp

Die Baumeisterin


Die Baumeisterin fühlt sich so schlecht an diesem Tag, der die Konturen der Umgebung verschwimmen läßt. Die Mauern speichern Feuchtigkeit, die sie den Zeichenstift kaum halten läßt.
Die Kohle ist zu weich, und die Hände zittern, der Bauch krampft sich in regelmäßigen Abständen zusammen, und ihr Speichel schmeckt nach Galle. Dennoch muß diese Zeichnung heute fertig werden. Das Papier wird wellig, die Linien schief und vewackelt. Dieser Sims passt nicht, jener Giebel kippt, das Tor ist zu klein und überhaupt hätte sie diesen Auftrag nicht annehmen sollen. Von Anfang an hat ihr die Lage dieser Baustelle mißfallen. Das ungesunde Klima, der Sumpf, der stetige, kalte Wind vom Meer.
Wie konnte man sich nur an diesem Ort eine Burg bauen, in der man auch noch leben wollte?


Um sich die Zeit zu vertreiben, bis das neuartige Material zur Fertigstellung der Wehrgänge geliefert werden würde, ging die Baumeisterin täglich, schon frühmorgens, mit Schaufel, Kelle und Eimer bewaffnet, in die Dünen, um Sandburgen zu bauen. Da unten stand schon eine ganze Stadt. Burg an Burg reihte sich den Strand entlang. Sie fühlte sich nun gezwungen, ein Straßennetz anzulegen und die einzelnen Burgen mit Brücken zu verbinden. Für eine Kanalisation war es leider zu spät, aber dafür mußte noch eine riesige Ringmauer gezogen werden, die das zu bebauende Areal eingrenzen sollte. Außerdem mußte die Burgstadt als Ganzes auch zu verteidigen sein. Innerhalb der Stadt dienten nun die mächtigen Schutzmauern der einzelnen Kastelle nur noch zur Zierde, untergraben und überbrückt, nutzlos geworden.


Das Wasser rinnt von den Mauern, die ewig im Urwald stehen. Sie glänzen, wenn die Sonnenstrahlen vereinzelt durch das Blattdach auf sie fallen. Flechten, Epiphyten, Ranken tun alles um ihren Platz auf der Mauer zu behaupten, ihren Platz an der Sonne den Steinen abzugewinnen. Der verfallene Turm hat viele Bewohner, welche die Baumeisterin nicht kennenlernen möchte. Schaudernd steht sie vor dem verschatteten Tor und wagt es nicht einzutreten. Schweiss perlt auf ihrer Stirn. Die gehauenen Steine und die Pflanzen sind einander zugewachsen.
"Sie brauchen keine Menschen mehr. Soll ich eine Burg für Menschen bauen, oder eine Burg, die niemandem gehören wird, außer der sie umgebenden Natur ?"


Das Gebäude strotzt vor figurativen Abbildungen. Teils Relief, teils Skulptur. Die Balkone sind Köpfe mit geöffneten Mäulern. Die Fenster Augen von riesigen Gesichtern. Der Kaminrauch steigt aus den Nasenlöchern grotesker Köpfe.
Hände und Beine ranken über dicke Bäuche und alles scheint zu krabbeln, vor lauter Kleingetier, das die Fassade überzieht. Wilde Tiger und Löwen stehen auf den Brüstungen, im Sprung von der Mauerecke, und eine Schafherde zieht senkrecht die Wand empor. An biegsamen Weidenruten sind Vögel befestigt, die leise im Wind schaukeln. Das ganze Gebäude macht einen beweglichen Eindruck, und tatsächlich, als es fertig ist, macht es sich über Nacht auf und davon, und keiner hat es je wieder gesehen.


Die Halle. Ausblick und Grabstatt zugleich. Die speziell gefertigten Deckenbögen sind nur bei Sonnenaufgang zu sehen, wenn die Sonne vom Horizont steil nach oben sticht, den Hügel hinauf, die Decke der Halle von unten beleuchtend.
Die Baumeisterin mußte also früh aufstehen um diese, von ihr erfundene, Konstruktion zu betrachten. Blumen sollten das Firmament stützen, dort hineinwachsen.
Eine Deckenkonstruktion, die dem Nachthimmel gleichen soll. Der Raum ist dunkel, nur durch die winzigen Öffnungen, die mit buntem Glas verschlossen sind, leuchtet das Tageslicht und verwandelt den oberen Abschluss dieses immensen Quaders in einen funkelnden Nachthimmel.


"Wieder beim Schach verloren. Nur weil mich die Konstruktion des Turmes an etwas erinnert, an das ich mich eigentlich nicht erinnern kann. - Wo habe ich nur die Burg gesehen, zu der dieser Turm gehört, der jenem vor mir auf dem Schachbrett so sehr ähnelt ? Ich sehe nur dunkle Wolken, fühle Winterkälte, mit Eis überzogene Steine, ein Feuer, ein schwarzer Kreuzgang, eine Burgkapelle, verhaltene Rufe, modrige Luft, Krähen, der Wind der Höhe ... Wo war das nur ? Ein goldener Kandelaber, Holzsäulen, dunkle Deckengewölbe, Lichteinfall in Strahlen, Träume von gelben Körpern, Türgriffe aus Aquamarin, elende Betten...." Über diesen Gedanken verliert die Baumeisterin auch das nächste Spiel.


Man müßte zwischen den Türmen schaukeln, um abzuspringen, wie ein Schmetterling herabzuschweben, im Schweben den Adler in seinem Flug erhaschen, und auf seinem Rücken den Zinnenkranz abgrasen, Wimpel mitnehmen, durch die Scharten in den Turm hinein und auf der anderen Seite wieder hinaus. Schriftrollen voller Zeichnungen sollen hunderte von Metern lang zu Boden segeln.
Im wilden Zickzack Tauben jagen für das Abendessen.
Lange Wehrgänge mit Rollschuhen entlangfahren, um das Geräusch der Holzbohlen zu vernehmen.
Eine Burg alleine würde mir nicht genügen. Und einen Turm werde ich immer ausschließlich für einen Adlerhorst bauen.


Das Haupttor sollte aus Panzerglas sein, damit sich der Angreifer im Sturm den Kopf blutig schlägt.
Dann würde das versetzte Fallgatter herabgelassen werden und seine zugespitzten Balken spießen die Körper auf und ziehen sie zappelnd nach oben. Hunderte von Pinakeln würden eine Türmchensilouette entstehen lassen, die die Veste von weitem größer erscheinen läßt.
Von stark ausladenden Barbakanen herab würden Kot -, Urin -, und Blutblasen auf den Angreifer geworfen werden. Riesige Karyatiden würden die Haupthäuser tragen, von denen keines den Boden berühren würde, welcher so als Unterstand für Tiere und Maschinen genutzt werden könnte.

Zeichnungen: Birgit Wudtke, Alexandra Filipp