Erik Schmidt

Salzstangen

Pilli ist auf der vierspurigen Ausfallstraße in Richtung Westen. Die Ampel ist rot. Es wird schon dunkel. Pilli schaut in den Spiegel und schenkt sich ein Lächeln. Ihre Hand fährt durch ihr frischgetöntes Haar und ihre Finger streichen über ihre Lippen. Sie sind trocken. Der Verkehr geht weiter, entlang an den großzügigen Bürobauten. Pilli liebt sie, sie erinnern sie an Amerika. I love New York, I love New York. Ihre Stimme singt im Kopf: Ich wäre eine gute Amerikanerin. Pilli stellt das Gebläse aus, der Verkehr staut sich, ein grüner Volvo vor ihr bremst plötzlich, Pilli schreckt hoch, schaut zurück. Der Verkehr steht, sie schaut auf die Uhr, es ist halb acht. Auf ihrem Beifahrersitz liegen ihre Tasche, ein paar Zeitschriften, Stadtpläne und eine Flasche Mineralwasser, die sie nimmt, zwischen ihre Beine klemmt, öffnet und trinkt. Sie muß viel trinken, trinken ist gesund, sie hat jetzt immer Mineralwasser im Auto. Sie schließt die Flasche, der Verkehr rutscht jetzt ein paar Meter weiter, dann die nächste Rotphase, links ein Schild, 3000 Meter Bürofläche zu vermieten. Pilli denkt an eine große Wohnung. Das Mineralwasser bläht ihr den Magen auf, ihr ist etwas übel. Die Lederjacke ist eng. Sie schaut wieder in den Rückspiegel, ihr Gesicht ist ganz rot, sie faßt sich an die Stirn. Heiß. Ihre Finger gleiten hinunter an ihren Wangen und Lymphknoten entlang. Sie schließt einen Moment die Augen und ihr Magen zieht sich zusammen, dann löst sie ihren Gurt und will die Lederjacke ausziehen. In dem Moment geht der Verkehr weiter. Es hupt, sie fühlt den Schweiß ihre Brüste entlanglaufen. Der Verkehr fließt, ihre Hand greift ihr Dekolté und ihre Finger fahren über ihr Fleisch. Es juckt. Ihre Haut juckt, sie nimmt die Flasche Mineralwasser und nimmt noch ein paar Schlucke. Sie trinkt, trinken trockene Haut. Pilli fängt an,auf dem Sitz herumzurutschen. Ein Gähnen verzerrt ihr Gesicht, sie schaut dabei in den Spiegel und denkt an das Abendessen, sie sieht ihre Freundinnen laut tratschen und quasseln. Sie schaut nach vorne, rechts vor ihr sieht sie noch die Spur, die dann weiter über die Betonbrücke in Richtung Abendessen führt. Der Verkehr zieht Pilli mit sich. Sie ist verzweifelt. Ihr Rücken juckt. Sie kratzt sich vor Wut tief ins Fleisch und die Straßenschilder verbieten ihr das Wenden. Sie will nicht mehr. Pilli fährt an eine Tankstelle, rechts neben den Staubsaugern hält sie, lößt ihren Gurt und schließt nochmal die Augen. Dann hebt sie ihren Pullover und fühlt ihren heißen Bauch, dreht sich und versucht ihren Rücken zu sehen. Rote Kratzspuren ziehen sich über ihre weiße Haut. Sie will - Pilli weiß nicht und holt ihren Filofax aus ihrer Tasche. Sie schaut über das Tankstellengelände, über die vierspurige Straße hinüber zum Parkplatz eines Einkaufzentrums, auf dem eine Telefonzelle steht. Sie steigt aus und geht zum hellerleuchteten Tankstellenshop. Sie geht schnell vorbei an den Scheibenwischer Erzatzblättern, an den Zeitschriften, dem Toastbrot und den eingeschweißten Hackbällchen zum Getränkekühlfach und nimmt eine Flasche Kola, dann an der Kasse noch eineTüte Salzstangen. Das weiße T- Shirt spannt sich um die Arme des Tankstellenkassierers, der mit einem Grübchenlächeln fragt: "Ist das alles?" Ihre Stimme erstickt, sie sieht seine behaarten Unterarme und fühlt sich schwach. "Ja". Sie vergißt das Telefonat. Sie versucht zurück zu lächeln, ihr Gesicht bleibt steif, ihre Haut juckt, sein Blick verfolgt sie noch durch den Laden, dann verliert er sie. Zurück zum Auto. Sie legt die Salzstangen und die Kola auf das Autodach, öffnet den Wagen und schaut noch einmal hinüber zur Telefonzelle auf dem Parkplatz des Supermarktes. Dann nimmt sie die Kola und steigt ein. Sie fährt zurück, die Straße in Richtung Zentrum ist frei. Sie fährt schnell, ihre Gedanken sind dunkel. I'm a beautiful girl, I'm a beautiful girl, ihre Stimme im Kopf hämmert. Sie sieht nicht mehr die Straße an der Kreuzung über die Betonbrücke. Sie fährt entlang an den leerstehenden, trostlosen Bürobauten, schnell, schnell. Sie biegt ein in die Straße, vorbei an ihrem Haus, kein Parkplatz. Sie fährt immer weiter in eine Nebenstraße, klein und dunkel. Rechts ein langer Bretterzaun mit Werbeplakaten und links die Rückwand eines Abrißhauses, sie setzt zurück in eine kleine Parklücke und kommt nur schräg hinein. Sie haßt kleine Straßen, sie haßt Dunkelheit, sie will nur nach Hause. Sie findet die Salzstangen nicht. Sie denkt an ihre geplatzte Verabredung, sie denkt an ihre geschwollenen Lymphen, sie denkt an den Tankstellenkassierer und denkt an den langen Weg, den sie noch laufen muß. Sie nimmt ihre Tasche, die Flasche Kola und eine Träne läuft über ihre Wange und sie wünscht sich so sehr morgen einen schönen Tag.

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