Heiko Wichmann

Die Verwandtlung

Als Georg Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich verwandelt. Er merkte: Er war nicht zur Geige geworden (auch nicht zu einer, die sich nicht mehr als solche erkennt), nicht zur Fliege und auch nicht zu einem ungeheuren Ungeziefer. Er merkte aber ganz deutlich, daß ihm etwas vor den Augen flimmerte, das er - obgleich es zu seinem Körper gehörte - nicht identifizieren konnte.
Was ist mit mir geschehen?" fragte er sich. Er versuchte sich in dem Raum zu orientieren, in dem er sich befand. Das Bett, auf dem er flach auf dem Rücken liegend dalag, hatte sich keinen Millimeter von dem Platz entfernt, den es am Abend zuvor eingenommen hatte. Über dem Tisch auf der anderen Seite des Raumes hing noch immer das Illustriertenbild, auf dem eine Frau mit Pelzhut, -boa und -muff zu sehen war. Aus dem Fenster sah er das trübe Wetter. Ihm erschien die Ordnung perfekt, während die Proportionen nicht mehr stimmten. Was ihm vor den Augen flimmerte, konnte er nicht lokalisieren. Es mochte sich direkt vor seinen Pupillen abspielen oder aber kilometerweit entfernt sein.
"Herrje, was habe ich für einen anstrengenden Beruf gewählt", dachte Georg, nach einer Ursache für seine Veränderung suchend. "Immer auf der Reise, immer unterwegs, niemals zuhause. Da kommt man nicht zur Ruhe. Um Serviceleistungen für meinen ganzen Kundenkreis erfüllen zu können, muß ich früh am Morgen aufstehen. Da kann ich es mir nicht leisten, lange in den Tag hinein zu schlafen. Ich muß verfügbar bleiben, und kann nicht nur nach meiner Laune in den Tag hinein leben. Da wundert es mich gar nicht, daß es bei dieser permanenten Belastung mit mir einmal etwas durcheinander geht."
Georg hörte ein Klopfgeräusch, das von der rechten Tür her kommen mußte. Er hörte die sanfte Stimme seiner Schwester sagen: "Georg, hör doch, der Abteilungsleiter ist gekommen". Ohne daß es ihm möglich gewesen wäre zu antworten, verhallte der Satz im Nichts. Regungslos im Bett liegend sah Georg zur Tür hinüber, deren Entfernung zum Bett unüberwindbar geworden zu sein schien. Tagelange beschwerliche Mühen wären nötig gewesen, um die Distanz zu überwinden. Immerhin hätte er den Ruf entgegnen können, indem er seine Stimmbänder gebrauchte. Er räusperte sich vorsichtig, was allerdings einen Lärm verursachte, der in seinem Kopf noch lange nachhallte. "Ich weiß", sagte er mechanisch, in der Hoffnung, daß die Worte verständlich klingen würden.
Nahe an seinem linken Ohr hörte Georg die Stimme seines Vaters: "Georg, nun mach doch schon die Tür auf! Der Abteilungsleiter hat doch nicht den ganzen Tag Zeit. Was ist denn los, daß Du nicht aus dem Zimmer kommst?" Die Stimme des Abteilungsleiters ergänzte in sachlichem Ton: "Herr Samsa, Sie wissen, daß wir bei uns auf Ihre Kräfte zählen. Wir verstehen doch auch, wenn es Ihnen einmal nicht so gut geht, dann müssen Sie sich allerdings auch ordnungsgemäß krankmelden. Ohne Krankmeldung mit Schein vom Arzt können Sie der Arbeit nicht einfach fern bleiben. Aber das wissen Sie doch auch selbst, Herr Samsa."
Während er die Stimmen an seinem Ohr hörte, hatte Georg sich bemüht, die schwere Decke aufzuschlagen und sich aus dem Bett zu bewegen. Nicht nur das Flimmern vor seinen Augen hinderte ihn aber daran, sondern auch eine lähmende Schwere, die sich in seinem ganzen Körper ausbreitete. Nur die Arme konnte er mühelos und frei bewegen, was ihn in einiges Erstaunen versetzte.
"Aber warten Sie doch, Herr Abteilungsleiter", hörte er sich selbst sagen, "es ist doch gar nicht so, daß ich heute nicht zur Arbeit hätte kommen wollen. Einige Umstände, die unvorhergesehenermaßen auftraten, haben diese Situation erzwungen. Es ist auch mir nicht ganz erklärlich, wie es dazu kommen konnte, denn die Prinzipien sind mir im allgemeinen doch heilig."
Während er hastig und ohne groß weiter nachzudenken nach entschuldigenden Erklärungen suchte, hatte Georg seinen rechten Arm auf eine Länge gestreckt, die quer durch das Zimmer bis zur Tür hinüber reichte. Wenn er sich auch sonst nicht wirklich aus dem Bett bewegen konnte, wollte er als Zeichen seines guten Willens doch immerhin die Zimmertür öffnen, um den anderen einen Blick auf seine Lage zu ermöglichen. Er wollte tatsächlich die Tür aufmachen, tatsächlich sich sehen lassen und mit dem Abteilungsleiter sprechen; er war begierig zu erfahren, was die anderen, die jetzt so nach ihm verlangten, bei seinem Anblick sagen würden. Der Rumpf seines Arms saugte sich am Türschloß fest und begann, den Schlüssel umzudrehen. Als würde ein ganzes Stadion aufschreien, klangen die überraschten Stimmen seines Vaters und des Abteilungsleiters zu ihm durch und befeuerten seine Anstrengungen.
Die Tür drehte sich auf, und Georg ließ seinen in die Länge gestreckten Arm zurückschnellen. "Sehen Sie, Herr Abteilungsleiter, es wird mir sofort wieder möglich sein, den Weg zur Arbeit anzutreten. Das Leben im Dienstleistungsgewerbe bringt einige Unwägbarkeiten mit sich, die Ihnen selbst sicherlich nicht unbekannt sein werden. Sie können im Büro bereits Bescheid geben und sagen, daß sich mein Erscheinen heute etwas verspäten wird."
Während Georg redete, hatte sich der Abteilungsleiter langsam zurückgezogen. Seine Gestalt löste sich auf. Im Vorzimmer aber streckte er noch die rechte Hand weit von sich zur Treppe hin, als warte dort eine geradezu überirdische Erlösung. Sollte seine Stellung im Geschäft nicht gefährdet werden, durfte Georg den Abteilungsleiter nicht auf diese Art und Weise gehen lassen. Er wollte ihn einholen, um die Situation zu klären. Von der Seite seines Vaters erklangen nun aber Zischlaute, die seine Bemühungen behinderten. "Hilfe, um Gottes Willen Hilfe", rief seine Mutter aus und riß im Zurückweichen die Kaffeekanne vom gedeckten Frühstückstisch. Georg stellte sich vor, wie er sich durch die Tür, deren Rahmen schmal zusammengeschrumpft war, zwängen und den Abteilungsleiter noch an den Hosenbeinen erwischen könnte. Ein Schmerz, der sich stechend in seinen Seiten meldete, hielt ihn aber zurück, und die Tür flog ins Schloß.

II

Im Dämmerschein des Abends erwachte Georg. Das Flimmern vor seinen Augen war verschwunden, und die Bettdecke hatte ihr Gewicht verloren. Langsam erhob sich seine Gestalt vom Bett und setzte die beiden Antriebsreihen in Bewegung. An der Tür war ein Napf mit Stirozyn-Milch aufgestellt worden. Vermutlich hatte ihm die Schwester mit seiner Lieblingsspeise eine Freude bereiten wollen. Als er aber seinen Kopf tief in die Flüssigkeit eintauchte, überkam ihn ein übles Ekelgefühl und er spie die geschlürfte Milch sofort wieder aus.
Obwohl im Wohnzimmer Licht brannte, war es vollkommen still. Georgs Stolz war es, der Familie ein Leben in Ruhe und Behaglichkeit ermöglicht zu haben. Unruhig wurde er bei dem Gedanken, daß der in entbehrungsreichen Jahren erarbeitete Lebensstil nun, da er seiner Arbeit nicht nachkommen konnte, gefährdet war. Getrieben von einem hoffnungslosen Verantwortungsgefühl bewegte er sich rastlos in seinem Zimmer hin und her.
Als spät am Abend das Licht im Wohnzimmer erlosch, hörte Georg, wie sich die drei Personen leise entfernten. Im Gegensatz zum Anruf am Morgen verlangte niemand mehr Einlaß in sein Zimmer, dessen Verbindungstür einen Spalt breit offenstand. Überwältigt von Schamgefühl verkroch er sich unter das Sofa.
Am frühen Morgen öffnete sich die Tür. Von seinem Versteck aus, in dem er sich halb hungernd und halb schlafend aufgehalten hatte, konnte er sehen, wie ihm die Schwester eine ganze Auswahl an Nahrungsmitteln vorlegte: Verschimmelter Joghurt, Psilocybin-Reste, matschiges Gemüse, hart gewordenes Brot und ein Käse, den er vor zwei Tagen für ungenießbar erklärt hatte. In einem Napf gab es dazu Wasser. Sobald die Schwester das Zimmer verlassen hatte, kroch Georg unter dem Sofa hervor und stürzte sich auf die verrotteten Speisen, die er mit einem unendlichen Wonnegefühl verschlang. Zwischendurch tauchte er seinen Kopf in den Wassernapf, um sich zu tränken und seinen im Hunger genährten Eifer zu kühlen. Er streckte sich lang hin, nachdem der Hunger gestillt worden war, und kroch unter das Sofa, als er bemerkte, wie sich die Tür wieder öffnete. Die Schwester kehrte die Essensreste zusammen und schüttete sie hastig in einen dreckigen Kübel, den sie hinaustrug. Georg zog sich unter dem Sofa, wo er sich nach der Nahrungsaufnahme stark einzwängen mußte, hervor, streckte und blähte sich, wobei ihm das Essen ein paar Mal aufstieß.
Wenn er seine Ohren fest an die Verbindungstür drückte, konnte Georg die Stimmen aus dem Wohnzimmer vernehmen. Mutter, Vater und Schwester berieten das künftige Schicksal der Familie. Es stellte sich heraus, daß ein Teil des Geldes, das Georg stolz nach Hause getragen hatte, abgezweigt und aufbewahrt worden war. Zur Not mochte diese Summe für zwei Jahre hinreichen, ohne aber die Familie gänzlich von der Arbeit befreien zu können. Eine unmögliche Vorstellung war das! Der Vater, der sich nach dem erlittenen geschäftlichen Desaster zurückgezogen hatte, war schwerfällig und mißmutig geworden. Die Mutter litt dermaßen am Asthma, daß ihr selbst der Gang durch die Wohnung eine Qual bedeutete. Und die Schwester war noch ein Kind, dem Georg Unterrichtsstunden im Violinspiel finanzieren, niemals aber in ihren jungen Jahren einer Erwerbstätigkeit nachgehen sehen wollte. Wenn die Rede auf die Notwendigkeit des Geldverdienens kam, ließ Georg von der Tür ab, denn ihm wurde ganz heiß vor Beschämung und Trauer.
Viele Nächte verbrachte er schlaflos in seinem Zimmer, getrieben von Gefühlen der Scham, Verzweiflung und Unschlüssigkeit. Wenn er seinen Blick zum Fenster wendete, bemerkte er, daß seine optische Wahrnehmung sich verändert hatte. Das vertraute Bild des Krankenhauses von gegenüber verlor sich in dem gegenwärtigen Bild einer Einöde, in deren Mitte sich der graue Himmel und die graue Erde ununterscheidbar vereinigten.
Über das Sofa, unter dem Georg sich regelmäßig beim Eintritt der Schwester verkroch, drapierte er ein Leinentuch, so daß sein Anblick gänzlich verborgen bleiben konnte. Denn schon ein paar Mal hatte sich die Schwester furchtbar erschrecken müssen, da ihr Georgs Gestalt zum Teil zumindest zu Gesicht kam. Es lag keineswegs in seiner Absicht, die Schwester, die ihn sorgsam verpflegte, zu erschrecken. Bemerkte er die Ankunft seiner Schwester, so verzog er sich rasch unter das Sofa, um ihr ganz aus den Augen sein zu können. Daß der Schwester nicht allein sein Anblick ekelerregend war, entnahm er der Tatsache, daß sie gleich nach dem Eintritt in das Zimmer die Fenster weit aufriß, um Atem zu schöpfen.
Das Zimmer hatte mit der Zeit Spuren seiner gewandelten Lebensumstände angenommen. Freie Bewegung verlangend, hatte Georg die Angewohnheit angenommen, über das Mobiliar hinwegzukriechen. Besonders wenn er sich direkt unter die Decke hängte, gingen angenehme Schwingungen durch seinen Körper, deren Wohlgefühl ihn löste und unten auf den Boden aufklatschen ließ. Kratzsspuren, Streifen und klebrige Flüssigkeitsreste zeugten im ganzen Zimmer von seiner Umtriebigkeit.
Der Schwester waren die Unternehmungen ihres Bruders, deren Spuren überall sichtbar waren, nicht entgangen. Gemeinsam mit der Mutter wollte sie für völlige Bewegungsfreiheit in dem Zimmer sorgen, dessen Mobiliar der freien Bewegung ein Hindernis sein mußte. Zwar hatte sich die Mutter nicht mehr in Georgs Zimmer getraut, aber Neugierde und ihre mütterliche Sorge ließen sie der Schwester bei ihren Bemühungen hilfreich zur Seite stehen. Gemeinsam trugen sie einen schweren Kasten und den Schreibtisch aus dem Zimmer hinaus.

Georg beobachtete aus seinem Versteck das Treiben der Frauen. Die Aussicht auf ein völlig ausgeräumtes Zimmer begann ihn zu ängstigen. Sicherlich war die Idee der Schwester gut und zuvorkommend gemeint und sollte ihm in seinen Bewegungsrichtungen freien Lauf verschaffen. Die Vorstellung, in einem völlig ausgeräumten Zimmer leben zu müssen, bedrohte ihn aber mit weiterer Isolation. Mit den Gegenständen verband sich immerhin seine menschliche Vergangenheit. Möglicherweise wäre sein unmenschliches Schicksal für immer besiegelt, sobald das Zimmer freigeräumt war.
Während die Schwester und die Mutter sich mit dem schweren Kasten im Vorzimmer abplagten, schnellte Georg aus seinem Versteck hervor und sah sich nach Gegenständen um, vor die er sich schützend stellen konnte. Das Bild der pelzbesetzten Frau an der Wand stach in seine Augen, und er preßte seinen heißen erregten Körper auf das kühlende Glas. Mit zur Türöffnung gedrehtem Kopf erwartete er die Rückkehr der beiden Frauen.
Grete bemerkte zuerst Georgs Gestalt, die an der Wand klebte. "Wollen wir nicht noch einmal ins Wohnzimmer zurück gehen?" fragte sie sogleich die Mutter, um ihr den Anblick zu ersparen. Diese spürte die Aufregung ihrer Tochter und sah über ihrer Schulter einen braunen Fleck auf der geblümten Tapete. "Ach Gott, mein Gott!" rief sie aus. Mit dem Schrecken verlor sie das Bewußtsein. Die Tochter bemühte sich, eine Flüssigkeit zu finden, mit der sie die Mutter aus der Umnachtung zurückholen konnte. Zu Georg gewandt rief sie zornige ermahnende Worte.
Es bedeutete einige Mühe, von dem Glas loszukommen, an dem er sich festgesaugt hatte, aber Georgs Verzweiflung trieb ihn aus dem Zimmer hinaus. Er wollte der Schwester zur Hilfe eilen. Als er sich aber an einem abgesplitterten Glas verletzte, verlor er sich in seiner Hilflosigkeit und drehte wie wild geworden im Zimmer umher.
"Was ist geschehen?", verlangte die Stimme des Vaters zu wissen. Offenbar war er es, der soeben die Wohnungstür geöffnet hatte. "Aha!" rief er in einem Ton, als sei er über eine erwartete Erscheinung gleichzeitig wütend und froh. Georg hob seinen Kopf an und war erstaunt über das neue Bild seines Vaters. Nicht der müde alte Mann, der sich nicht aus dem Bett bewegen wollte und der früh am Abend schon im Schlafanzug herumsaß, kam ihm da entgegen, sondern eine respektvolle Person in einer teuren Livree, wie sie vielleicht von Hotelangestellten getragen wird. Sicheren Schrittes ging er auf Georg zu, der aus seiner kauernden Position die Größe der Stiefelsohlen bestaunte. Einander auflauernd trieben sie sich langsam im Kreis im Zimmer herum. Während der Vater nur einen Schritt zu tun brauchte, mußte Georg mit den winzigen Beinchen unendlich trippeln. Atemnot machte sich schon durch das Laufen bemerkbar. Bevor er noch auf die Wände hätten ausweichen können, flog in Georgs Nähe ein harter Gegenstand nieder. Der Vater war dazu übergangen, Georg in sein Zimmer zurückzutreiben, indem er ihn mit Obst bewarf. Die kleinen roten Äpfel rollten wie elektrisiert auf dem Boden herum und stießen aneinander. Ein starker Wurf durchstieß sein Rückenschild und bohrte den Apfel in sein Fleisch hinein. Als könne er dem Schmerz entfliehen, wollte sich Georg weiterbewegen, streckte sich aber nur noch in Verwirrung aller seiner Sinne hin.
Aus seinem Zimmer eilte die Mutter hinaus, nur leicht mit einem Hemd bekleidet, eilte dem Vater entgegen, während die nur leicht befestigten Röcke auf den Boden nieder rutschten; und als sie und der Vater sich in gänzlicher Vereinigung umschlangen, die Mutter um Schonung für Georg flehte, und der Vater sie fest hielt, versagte Georgs Sehkraft und es wurde schwarz.

III

Über einen Monat lang hatte Georg an der durch den Apfel geschossenen Wunde sehr zu leiden. An freie Bewegung in seinem Zimmer war nicht mehr zu denken, die kleinste Bewegung schmerzte in allen Gliedern. Durch die geöffnete Wohnzimmertür beobachtete er das Zusammensein der Familie. Meist war es still: der Vater schlief in Dienstuniform im Sessel, während die Mutter Kleidungsstücke nähte und die Schwester sich in Textverarbeitung übte.
Die Familie war mit den neuen Tätigkeiten im Berufsleben zu sehr beschäftigt als daß sie sich noch groß um Georg hätten kümmern können. Die Schwester schob das Essen am frühen Morgen vor der Arbeit in Georgs Zimmer hinein und holte es am Abend - gleichgültig wieviel übrig gelassen wurde - ab. Georgs Zimmer verwandelte sich immer mehr in eine Schutthalde, denn die Schwester besorgte auch die Putzarbeiten nur noch lieblos und rasch.
Zwar war in letzter Zeit eine Haushaltsgehilfin in der Küche zu gange, das Reinemachen in Georgs Zimmer fiel aber nicht in ihren Aufgabenbereich. Sie trat Georg gegenüber ohne Furcht, resolut und barsch auf. Da ein Zimmer an drei verdächtig wirkende vollbärtige Herren untervermietet worden war, mußte der ganze unverkäufliche und unnütze Unrat der Wohnung in Georgs Zimmer gebracht werden. Ohne lange nach einem geeigneten Platz zu suchen, schleuderte die Haushaltsgehilfin die Sachen durch die Tür. Es standen Abfallkisten, Schubladen mit alten Kleidungsstücken und abgenutzte Sessel in Georgs Zimmer herum.
Durch den Türspalt sah Georg, wie sich die drei Herren nach dem Essen in ihren Stühlen zurücklehnten und gemütlich Zeitung lasen. Die Familie mußte sich in der Küche aufhalten, denn plötzlich erklangen von dort Violinklänge. Auch die Herren vernahmen die Töne und erhoben sich langsam von ihren Plätzen. Der Vater, der sich um die Bequemlichkeit der Gäste sorgte, rief durch die Tür: "Entschuldigen Sie bitte, meine Herren. Wenn Ihnen die Musik zu laut ist, kann sie auch abgestellt werden." - "Aber nein", bekundete der mittlere der Herren. "Kommen Sie doch ins Wohnzimmer und spielen hier weiter, so daß wir Ihrer Schwester beim Spiel zusehen können." Die Tür ging auf, und der Vater trug den Notenständer, die Mutter die Noten und die Schwester brachte ihr Instrument mit in das Wohnzimmer, um dort zu spielen.
Doch schon bald begann das Violinspiel die Herren zu langweilen, denn sie pafften ihren Zigarrenrauch unkonzentriert vor sich hin, ohne auf das Spiel der Schwester acht zu geben. Der Schwester entging die Achtlosigkeit der Gäste, da sie sich, mit schräg geneigtem Kopf, ganz dem Notenblatt widmete. Georg kroch leise durch seine Zimmertür. Der vibrierende Klang des Instrumentes verzauberte ihn. Zu schön und traurig schien ihm die Musik der Schwester zu sein. War er ein Tier, da ihn Musik so ergriff? Ihm war, als zeige sich ihm der Weg zu der ersehnten unbekannten Nahrung. Niemand würde sich so wie er um die Schwester kümmern und ihr Violinspiel fördern können. Während er weiter vorwärts kroch, stellte er sich vor, wie er mit der Schwester zusammen in seinem Zimmer leben würde. Seine furchtbare Gestalt würde sie vor der Zudringlichkeit der Welt beschützen können. Er würde ihr das Konservatorium finanzieren, und wenn sie sich dann voller Tränen der Rührung zu ihm wandte, würde er ihr den Hals küssen, den sie in letzter Zeit frei zeigte.
"Herr Samsa!" rief der mittlere Herr aus und richtete seinen Zeigefinger auf die mit Staub und Essensresten verklebte Gestalt Georgs. Der Vater, eifrig bemüht, einen Eklat zu verhindern, stellte sich vor die Gruppe der Gäste, so daß ihnen der ekelerregende Anblick halbwegs versperrt wurde, und versuchte, die Herren unter beschwichtigenden Reden in das Schlafzimmer zu dirigieren. Wieder aus der Verzückung, in die sie während des Violinspiels versunken war, erwacht, machte sich die Schwester daran, den Herren das Bett zu richten. Der mittlere Herr bemerkte, daß etwas nicht in Ordnung war und versuchte, daraus einen Vorteil zu schlagen. "Herr Samsa", begann er, "die widernatürlichen Verhältnisse in ihrem Haushalt sind uns nicht verborgen geblieben." Die beiden anderen Köpfe der Gruppe nickten zustimmend. "Augenblicklich werden wir unsere Unterkunft aufkündigen. Natürlich werden wir unter diesen Umständen auch nicht für die Tage, die wir hier - mehr schlecht als recht - logiert haben, aufkommen. Vielmehr werden wir uns überlegen, welche berechtigten Nachforderungen Ihnen von unserer Seite aus zugehen werden." Und mit einem Krach fiel die Tür ins Schloß.
Die enttäuschten Hoffnungen, aber auch das zermürbende Hungergefühl ließen Georg in seiner Schwäche bewegungslos liegen. Die Schwester erklärte: "Liebe Familie, so geht es nicht weiter. Wir haben das Menschenmögliche versucht, um diese Kreatur zu pflegen und vor der Welt zu verbergen. Daß es sich dabei um meinen Bruder handeln würde, war eine Illusion, die wir, soweit es ging, aufrecht erhalten haben. Nunmehr müssen wir uns aber die Wahrheit eingestehen. Wenn wir nicht zugrunde gehen wollen, müssen wir uns von diesem Monstrum trennen."
Gedemütigt begann Georg, seine Beinreihen in Bewegung zu versetzen. Die Schwester wurde durch seine Lebenszeichen wieder erschreckt und schlang hilfesuchend ihre Arme um den Hals des Vaters. Ohne jetzt noch weiter auf panische Reaktionen seiner Familie zu achten, dreht sich Georg langsam herum und kroch in sein Zimmer hinein. Als er sich wieder in der Rumpelkammer befand, knickten seine vollkommen geschwächten Beine ein. Er war zu keiner Bewegung mehr fähig. Obwohl ihn sein überall entzündeter Körper schmerzte, durchströmte ihn ein Gefühl der Ruhe und Sorglosigkeit. Mit Rührung und Liebe dachte er an die Familie zurück, deren Wunsch, ihn loszuwerden, zu seinem eigenen geworden war. Bis zum frühen Morgen wiegte er sich in dem trüben Zustand des leeren und friedlichen Nachdenkens, bis ihm schließlich der Kopf herunterfiel.
Als die Haushälterin am Morgen in Georgs Zimmer hineinsah, meinte sie zunächst, er liege nur still und mürrisch da. Mit dem Besen in der Hand versuchte sie ihn von der Tür aus zu kitzeln. Als er sich aber noch immer nicht rührte, stieß sie fester zu und durchbrach den Panzer. Eine schleimige Flüssigkeit sickerte aus dem Kadaver. "Das ist ja widerlich", rief sie aus, und begab sich sofort zum Schlafzimmer der Eltern, um ihnen Meldung zu erstatten. Herr und Frau Samsa zogen sich rasch etwas über, um den neuen Sachverhalt mit eigenen Augen zu sehen. Auch die Schwester erschien mit bleichem Gesicht, als hätte sie die Nacht über gar nicht geschlafen, in Georgs Zimmertür. Ungläubig starrten sie auf die Überreste.
Mutter und Vater nahmen Grete sanft bei der Hand und führten sie in das Schlafzimmer. Sie fühlten sich gleichzeitig erleichtert und niedergeschlagen. Als die drei Herren erschienen und ihr Frühstück haben wollten, fuhr sie der Vater an: "Machen Sie, daß sie aus meiner Wohnung kommen! Sie werden hier nicht mehr bedient!" Das Erstaunen über die Wandlung des Vaters ließ sie nicht an der Nachdrücklichkeit der Forderung zweifeln, und sie machten sich davon. "Heute machen wir uns einen schönen Tag", sagte der Vater. "Es steht uns nun wirklich zu."
Gemeinsam setzten sie sich an den Wohnzimmertisch und verfaßten die Entschuldigungsschreiben für ihre Arbeitsstellen. Seit Monaten war es das erste Mal, daß sie ihre Wohnung gemeinsam und frei verließen. Sie fuhren mit der S-Bahn aus die Stadt raus. Eine helle Frühlingssonne leuchtete durch die Fenster des Zuges, und freundliche Gedanken über die ihnen offen stehende Zukunft durchzogen ihr Inneres. Die Perspektiven, die sich aus der neuen Situation und ihren Anstellungen ergeben, waren nicht die schlechtesten. Eine kleinere und bequemere Wohnung als die ihnen von Georg verschaffte, sollte sich auch finden lassen. Hin und wieder, wenn sie sich von ihren Gedanken lösten und aufschauten, trafen sich ihre Blicke in einem geheimen Einverständnis, das sie gegenseitig bestätigte. Und als sie sich von ihren Plätzen erhoben, um aus dem Wagen zu steigen, zeigte sich der junge üppige Körper Gretes, den sie in den letzten Monaten immer unter den Plagen des Haushaltes gebückt gehalten hatte, zum ersten Mal in aller Pracht. Genüßlich streckte und dehnte sie sich im hell scheinenden Gegenlicht und schien sich sogar ein wenig vom Boden zu erheben.

Zeichnung: Ina Wudtke



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