Lt. Wichmann

Fluchtlinien in virtuellen Räumen

Das Spiel der 1/0-Schaltungen fing vielleicht mit Leibniz an, mit dem I-Ging, oder mit Heraklit, oder mit dem chinesischen Ideogramm, oder mit der ägyptischen Hieroglyphe. Für die Abenteuer-Spieler an den Konsolen vielleicht mit Al Lowes "Leisure Suit Larry". Oder mit Space Invaders oder gar PacMan oder Pong. Die Verbindungslinien und Chiffren lassen sich scheinbar beliebig hin und her ziehen. Oft zeigen sie sternmäßige Muster, die auf nichts anderes als auf die geleistete Pionierleistung hinzuweisen scheinen. Oft zeigen sie ein feines Rieseln an, das an den Rändern beginnt, um die Verhältnisse im Inneren zum Tanzen zu bringen. (Zehn Jahre ist es inzwischen her, daß Georg Seeßlen das Rieseln der gesellschaftlichen Sinnkonstruktionen und Pädagogisierungen in seinem schönen, semiotisch inspirierten Buch "Pac Man & Co" nachzeichnete und vorantrieb.)
TV-Bildschirm und Computer-Monitor wechseln ihre Standorte. Allerdings nicht als Multimedia (alle Anschlüsse belegt und nicht viel mehr als die Drohung des Gläubigers in Szene gesetzt), sondern über die verschiedenen Formen, Reaktion und Ursache variabel miteinander in Beziehung zu setzen. Das Fernsehbild klammert sich an die Personen, die es vor seine Linse zerren kann (und seine anderen reproduktiven Formen und Funktionen); bald wird vielleicht über diesen Schirm nur noch der aktuelle Konto-Stand herunterflimmern.
Auf der anderen Seite sind die spielerischen Formen, Aktionen und Reaktionen zu inszenieren, in der Gewalt der Mega-Sega/Super-Nintendo-Konzern-Konglomerate, die nur den kommenden Geldstrom wittern, den neue Bewegungsformen wie Kickboxing, Hit'n'Run oder Jump'n'Run versprechen. Scheinbar jedenfalls. Ich will nicht unbedingt behaupten, daß die Filmgeschichte das Modell aller kulturellen Entwicklungen wäre, aber es gibt eben nicht nur die Mega-Corporations, die alles kontrollieren. Diese Riesen torkeln permanent, - und das nicht nur naturgemäß wegen ihrer eigenen Unzulänglichkeit, sondern auch wegen der untergründigen Aktivität, die sie nur zum Teil abschöpfen können. Und die kleinen eifrigen erfinderischen anarchistischen liebenswerten Ideen umsetzenden Software-Autoren und -Regisseure sind heute vielleicht dabei, den kulturellen Platz einzunehmen, den vor einiger Zeit Leute wie Godard, Truffaut, Rohmer, Rivette oder auch Hopper, Hooper oder Cassavettes für sich beanspruchten. - Naja, vielleicht hinkt der Vergleich doch zu stark. Aber daß es im Kampf im Data Space um ein Bündel von kulturellen Entscheidungen geht, merkt auch etwa Malcolm McLarren, wenn er sagt, daß er heute als junger Mensch nicht Punk rocken würde, sondern Computer-Spiele programmieren. Und i-D druckt inzwischen regelrechte Mac-PR (the Screen Issue).
Ich kenn mich am besten mit Mac-Software aus. Deshalb stell ich hier nur das Feeling der Spiele vor, die es für Mac gibt. Allerdings nur Shareware (oder E-Mail/Postcard-Ware, Freeware, Public Domain, Happy Ware etc.). Da durchläuft die Warenform noch etliche Metamorphosen, Transformationen, Teilungen und Kompilationen. Inzwischen gibt es auch ziemlich gute CD-ROMS etc. (quasi die andere Seite) für Mac. Aber es ist wahr, daß die Software-Entwicklung für die verschiedenen Plattformen unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Präferenzen unterliegt. Wenn die anderen sich schon zu langweilen beginnen und nach dem nächsten Flash gieren, wird dann eben auch "Day of the Tentacle" auf den Trinitron- und RGB-Schirmen der Macs laufen.
Dafür hat der Mac andere Vorteile. Viele in Anführungszeichen künstlerische oder anspruchsvolle Software wird für den Mac konzipiert. In diesem etwas zweifelhaften Zusammenhang muß natürlich die Freak Show der Residents erwähnt werden. Oder auch die trance-surreale "Myst"-CD von Brøderbund. Viele Spiele-Programmierer feuern heftige Breitseiten gegen die Politik des Standards-Wirrwarrs in der Dos- und Windoze-Welt ab. Ich will nicht noch einmal die Fundamental-Kontroverse um Bill Gates hin und her diskutieren. Vielleicht ist es auch viel lustiger, nicht den langsam sich etablierenden Spielbeschreibungsjargon zu imitieren, sondern - über die Begleittexte zu schreiben. In den Begleittexten, die in den Ordnern mitverschickt werden, markieren die Wizz Kids und Software-Piraten auch immer politsche Positionen. Nicht zuletzt ist der Kampf um die Pixels und Vektoren auch ein Kampf um Vokabeln und die Selbstbehauptung von Nonsense.
Die Macher des inside mac games nehmen da eine etwas unentschiedene Position ein. Auf der einen Seite benutzen sie DOCMaker als ein wirklich wirkungsvolles, schönes Instrument zur Distribution der Neuigkeiten aus den Entwickler-Labors. Auf der anderen Seite promoten sie hauptsächlich die kommerzielle Software; wenn sie auch in ihrer Playlist Shareware anführen. Aber das beste war wohl (neben den Interviews und Reviews des 'premiere magazine') der Maelstrom-Wettbewerb. Die Freaks, die ihre Keyboard-Fertigkeiten stundenlang trainieren, konnten sich da verewigen, indem sie den HighScore-Bildschirm snappten und an "inside mac games" schickten (1.417.110 Punkte schossen den Vogel ab). Der Wettbewerb ist inzwischen vorbei, und man wird sehen, welche Entwicklung sich in diesem Bereich ergeben wird. Dort konnte man jedenfalls erfahren, daß der Typ, der bei Apple für die Koordination in der Spiele-Entwicklung zuständig ist, auf die Berufsbezeichnung "Evangelist" hört.
Der "Maelstrom"-HighScore-Wettwerb zeigt jedenfalls einen wesentlichen Aspekt bei diesem vitalen, unabsehbaren, wechselhaften Austausch von billigen Bits und Bytes: daß es um die Kommunikation, den Austausch und - das Netz geht. Die Aufregung beim Spielen der Spiele ist nur ein Aspekt. Mindestens ebenso aufregend ist die Suche und der Erfahrungsaustausch bei der Suche nach geiler neuer Software, die das Denken rotieren läßt. Und eben die Begleit-Texte, die immer sehr persönlich sind - Nachrichten von einem anderen Knotenpunkt des Gewebes.
"Maelstrom" ist nur eine Interpretation (oder Version) des Asterioden-, Meteroiten-, Galaxis-Plots. Die Genre-Unterteilungen lassen allerdings genügend Platz für neue Sichtweisen, die Grenzen des Machbaren und Denkbaren verschieben; die interessantesten Verschiebungen und Neuinterpetationen werden in der Zukunft vermutlich von außen kommen. Unangenehm ist es natürlich, wenn die Leute nur ihre Fähigkeiten ausstellen wollen. Außen kann im Fall des elektronischen Bildes auch das Off bedeuten. Bei "Maelstrom" johlt eine Menge bei Treffern, und der Alarm ist von Star Trek gesamplet.
Ben Haller ist zu einem der prominentesten Namen im Mac-Spiele-Bereich geworden. Bevor er für Berkeley Systems Inc. (After Dark) "Lunatic Fringe" schrieb, hatte er sich mit Solarian II Meriten im Shareware-Bereich geholt. Auch bei ihm kommt der Ton aus dem Off: Registrierkassen klingeln, Aaahs erklingen wie im freien Fall. Die aberwitzigen Space-Figuren drehen sich in 256 Farben um ihre eigene Achse.
"Maelstrom" und "Solarian II" sind wegen ihrer Absurdität und Abgedrehtheit mit die bekanntesten Shareware-Games für Mac. Aber es gibt noch andere Autoren, die ich in diesem Zusammenhang erwähnen möchte. Auch Hui Dong aus Chicago hat eine Version der Space Invaders Saga vorgelegt, die sehr witzig ist ("SpaceInvader!"). Während Ben Haller und Andrew Welch (der "Maelstrom"-Autor; Art by Ian Gilman & Mark Lewis) anonyme Figuren sind, die allein über das Interface und den Witz ihrer Spiele kommunizieren, wendet sich Hui Dong in den Begleittexten direkt an die interessierte "Gemeinde der Fans" (Adorno). Hui Dong macht einen süßen Eindruck. Seinem zweiten Spiel "PianoSim" (mit dem man ganz billig einstimmige Keyboard-Melodien tippen kann) legte er Melodien als Beispiel bei: "Für Elise", "Herald Angels Sing", "Jingle Bells", "Joy to the World", "Love Story", "The First Noel", "We Wish You A Merry Christmas", "Yankee". Durch die Freude seiner Software spricht sich die Hilflosigkeit desjenigen aus, der Anschluß an eine originäre amerikanische Kultur sucht. Eine paradoxe Situation. In den Liner Notes zur Piano-Simulation fragt er nach einer Anstellung als Programmierer. Ob er inzwischen eine gefunden hat, ist mir nicht bekannt. Ich wünsche es ihm jedenfalls.
Eine ganz andere Musik (auch 1992) gibt Bryan K. "Breaker" Ressler zu hören. Mit seiner Simulation eines Plattentellers mit Mix-Effekten ist ihm eine schöne Parodie auf die "Rapmaster" der Haupt- und Seiten-Straßen gelungen. Man kann etwa mit Mikro sein persönliches "Hit It" aufnehmen, mit dem Maus-Finger auf dem Pad scratchen und ein paar Claps und Chirps dazugeben. Im Hintergrund läuft eine modulierbare Rhythmusspur mit Bass Lines. So einen schönen Humor findet man in San Jose (in Oakland findet das wohl niemand witzig). Einschränkend schreibt der "Breaker" allerdings: "Rapmaster is a software toy. Like all toys, there's a point where you'll get bored with it. This period seems to vary inversely with the amount you know about music." -
Erwähnen will ich auch John Hughes, obwohl ich ihn nicht besonders mag. 1991 legte er einen ernsthaften Versuch vor, Rollenspiele mit fiktionalen Elementen auf HyperCard zu inszenieren. Nicht nur die Größe des Stacks, auch die Graphik verblüfft im ersten Moment sicherlich. Das Szenario hat er "Rites of Passage" genannt, nach den Formen irgendwelcher Cyber-Fantasy-Stammes-Rituale. Und schon nach kurzer Zeit kann man das aufdringliche "Attention" im Ton und das angst-Zischen nicht mehr ertragen. Das ganze ist einfach überambitioniert. Die Philosophie dieser angsterfüllten, Fantasie und Rollenspiel praktisch kombinierenden Klientel lautet dann auch: "There is a DARKNESS between the stars". Diese Parole wird laufend wiederholt. Ich war allerdings so frei, Graphiken daraus für diesen Artikel zu snappen (das dämliche "Anything's Legal - Anything Goes" auf dem konstruktivistischen Auge, das den Artikel einleitet, habe ich natürlich ausradiert).
Wie in jedem Metier gibt es also auch hier ein paar unangenehme Gestalten. Eine etwas dubiose Position nehmen auch die äußerst produktiven Ingemar Ragnemalm (aus Linköping, Schweden) und Cary Torkelson (aus Poughkeepsie, NY-USA) ein. Die Spiele von Ingemar Ragnemalm sind zu bemüht witzig, und ein X-Mas-Jigsaw-Puzzle für '93 raufzuladen, ist einfach zu uncool. Cary Torkelson (dessen E-Mail-Adresse ihn als IBM-Angestellten ausweist) hat inzwischen 7 (in Worten: sieben) Spiele geschrieben, die alle ein ganz schönes Interface haben: "Action-Strategy Baseball", "Desert Trek", "Galactic Empire", "Galactic Trader", "Lightcycle Duel", "MacMines", "Pegged". Damit hat er dann auch wohl die ganze Palette von derzeit kursierenden Genres abgedeckt (Flugsimulationen, Minen, Strategie, Baseball, Abenteuer, Schiffe versenken).
Bevor ich zu dem Spiel komme, über das die Welt spricht, möchte ich noch Tom Spreen den Credit zollen, der ihm gebührt. Inzwischen gibt es - wie man sich vorstellen kann - unzähliche Interpretationen der Star Trek-Saga auf dem Markt. Kürzlich wurde zum 25ten Jubiläum ein kommerzielles Produkt heraugebracht, das sich in TV-getreuer graphischer Nachbildung der Enterprise-Abenteuer versucht. Daß dieser Ansatz (getreue Kopie des Originals) falsch ist, zeigt nicht nur das enttäuschende, umfangreiche Resultat, sondern auch eben die Interpretation von Tom Spreen aus Kanada, die im August des letzten Jahres ins Netz ging. Sein Spiel "Rescue" ist eine geistreiche Interpretation der intergalaktischen Friedensmission, keine Kopie der Figuren. Eine elektro-feminine Stimme begrüßt den Spieler: "Welcome on board the Enterprise." Die 5-Fenster-Konsolen-Bedienung des Spiels (mit Warp- und Impulse-Beschleunigung) wandelt die TNG- und TOS-Folgen in Software-Interpretationen um.
Das derzeit intelligenteste, wichtigste und abenteuerlichste Spiel ist aber "Bolo" von Steward Cheshire. "Bolo" ist das Internet-Spiel für den Mac. Wie Steward Cheshire betont, ist "Bolo" das Hindu-Wort für Kommunikation. Pervers mutet es zuerst an, daß Festungs-Bau und Panzer-Fahrten Metaphern für Kommunikation sein sollen. Hat man allerdings die berechtigten Zweifel zurückgestellt, erweist sich Bolo als eines der interessantesten und aufregendsten Experimente im Data-Netzwerk. Das "Bolo"-Paket wird ergänzt durch den Map-Editor, mit dem eigene Hintergrund-Landschaften kreiert werden können, und den "Bolo"-Finder, der im Internet nach gerade laufenden Partien sucht. Da können sich dann bis zu 16 Leute zusammenschalten, Allianzen bilden und Strategien entwerfen. Denn tatsächlich kommt es bei "Bolo" nicht so sehr darauf an, sich durchzuschießen (man kommt nicht weit und blamiert sich vor den erfahrenen Mitspielern), stattdessen geht es darum, klug zu handeln, das Terrain einzuschätzen, Stützpunkte und Fluchwege zu erschließen. Lustig zu lesen ist der mitgeschickte FAQ-Katalog, in dem Steward Cheshire (sich) Fragen beantwortet. Auf die Frage, warum im Spiel der Verlust eines Panzers nicht heftiger bestraft würde, antwortet er: damit es für Anfänger nicht so langweilig ist. In diesem Frage-Antwort-Katalog erfährt man auch, daß Steward auf dem Universitätsgelände von Stanford lebt, seinen PhD in Netzwerk-Kommunikation macht und - ohne Modem und "64kbit/sec audio telephone"-Verbindung - mit Ethernet und Internet-Anschluß, der direkt in seine Wohnung führt, lebt. Mit "Bolo" hat er mehr als ein Shareware Spiel geschaffen, das auf irgendwelchen BackUp-Disketten vor sich hin gammelt. "Bolo" ist Instrument für die Expropriation des Daten-Raumes. Es ist die spielerische Erprobung von abstrakter Kommunikation, Verhandlung und netz-gebundenem Austausch über lokale Einschränkungen hinweg.
Und weil hier so oft beklagt wird, daß die Kommunikation sich zu sehr an die amerikanische Variante anlehnt, möchte ich noch eine Begegnung erwähnen, die nicht zur Entdeckung eines neuen geilen Spiels führte, sondern via Stanford direkt in die Nachbarschaft ging. Christian Franz ist Autor des strategischen "Galaxis"-Spiels. In seiner Anleitung beschreibt er die Regeln und Möglichkeiten des Spiels. Zum Schluß erwähnt er, daß er das programmierte Spiel seiner Freundin geschenkt hatte. Wem das Spiel gefällt (mir hat es zwar nicht gefallen, aber das macht nichts), soll nicht ihm eine Karte schicken, sondern seiner Freundin Barbara Wedekind. Und die wohnt tatsächlich in der Friedensallee in Hamburg. Vielleicht liest sie ja diese Zeilen; dann kann sie uns eine Karte schicken. Denn schließlich geht es bei den Computerspielen nicht ums Siegen, sondern um die Allianzen und Korrespondenzen, die sich notwendig zufällig einstellen.

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