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|> Artikel: Kraftwerk  

Windschatten - Kraftwerk tritt die Pedalen
      von Adam Olschewski
[Frankfurter Rundschau; 8.8.03]


Es hat den Anschein, als habe Kraftwerk die neunziger Jahre bewusst passieren lassen - jenes Jahrzehnt, in dem sich Elektronik im Mainstream gemütlich eingerichtet hatte. Als habe man planvoll jenen Augenblick abgewartet, in dem sich Mattigkeit über die Szene legt. Nicht sofort, sondern einen Schritt hinter der Schwelle des neuen Jahrtausends ist der Augenblick da, ist man wieder vorhanden, unverkennbar und monolithisch wie ehedem, mit Tour de France Soundtracks.

Als im Juli 1983 Kraftwerks "Tour de France" erschien, setzte die Single einen Schlusspunkt unter eine Dekade, die für die Düsseldorfer mit Autobahn (1974) begann, über Transeuropa-Express (1977) und Mensch-Maschine (1978) führte und allem Pop, der danach kommen sollte, den Weg wies. Später folgte Electric Cafe als poppige Angelegenheit, dann ein Album mit altem, neu gemischten Material, eine Best-of-CD, ein Stückchen für die Expo in Hannover - Unwesentliches, gemessen an Standards, die Kraftwerk an sich setzte.

Nichts versprach diese Rückkehr im großen Stil, schon gar nicht die kürzlich ausgekoppelte Single, die akustische Tourbegleitung bei Eurosport. Sie nahm den Faden des Hits von damals sanft auf, doch war zu sehr vom In-die-Pedalen-Treten vereinnahmt, um als Versprechen auf einen neuen Meilenstein zu taugen. Viel eher war man darauf vorbereitet, dass es diesen neuen Longplayer gar nicht geben würde, genau wie einst das angekündigte Album Techno Pop nie erschien.

Zum hundertsten Geburtstag der Frankreichrundfahrt war Kraftwerk dann doch präsent, wenn auch nicht termingerecht - wohl, weil es das Image von Unabhängigkeit, Unberechenbarkeit und Unnahbarkeit nicht erlaubt. Dennoch ist die Liebe zum Radsport wohl so groß, dass Kraftwerk ihr gleich eine ganze CD widmet. Diese Liebe muss man jedoch nicht teilen, um der Dynamik zu erliegen, die nach wie vor dem Prinzip der Reduktion gehorcht. Bestimmte Motive wiederholen sich, wie früher, bis ein Zustand der Lethargie, der Monotonie, des Trance einsetzt. Über sein Verhältnis zu Maschinen sagte Ralf Hütter, neben Florian Schneider die prägnanteste Gestalt der Band, im Jahr 1991: "Wenn man die gut behandelt, dann funktionieren die auch, behandeln die uns gut. Das ist eine echte Zusammenarbeit: Wir spielen unsere Musikmaschinen, und manchmal spielen die uns." Der passionierte Rennradfahrer zieht auch Parallelen zum Radsport: "Irgendwann fährt ,es'. Auf diese Weise haben wir eine Menge Stücke komponiert: Die Musik haben nicht eigentlich wir gemacht, die ist von selber passiert."
Der Kraftwerkmensch hat den Rechner verstanden, ihm den Willen belassen und zugleich sich selbst nicht verleugnet. Es wurde gern vergessen, aber Kraftwerk verlangten unentwegt nach Natürlichkeit im Umgang mit Maschinen. Rückblickend - besonders innerhalb des Elektronikerzirkels als Hort von Selbstreferenz und Autismus - ist Kraftwerk deshalb Hauptvertreter der Humanität in dieser Sparte.

So sehr sie auch das Roboterhafte in ihrem Erscheinungsbild betonen, so viele Dummies sie auch auf der Bühne anhäufen mögen, ihnen geht nie die Wertschätzung für den Menschen abhanden. Was, neben dem Kraftwerk-Groove, der Grund gewesen sein mag für die Vereinnahmung durch die Hip-Hop-Szene, die sich ja ursprünglich und vorwiegend aus soulerprobten Schwarzen rekrutiert. Kraftwerk ist bisweilen ein Sentiment eigen, das beinahe an Verklärung grenzt und sich zu Wunschvorstellungen geronnenen Worten wie "camerades et amitié" bei der Neubearbeitung der alten Version von "Tour de France", aber in erster Linie in der Melodie, mit Hilfe eines nostalgisch, weil geradlinig agierenden Synthesizer geführt, offenbart. Am deutlichsten wird der Hang zum Romantischen aber in dem Stück "La forme", das der Melodie eine Menge Freiraum für Kitschansätze lässt, und das sich diesen im Rhythmus zugleich wieder verweigert.

Augenscheinlich wird die heimliche Stärke von Kraftwerk - den Rückgriff auf den Menschen als die einzige zuverlässige Konstante jeder Musik zuzulassen oder gar zu betonen - bei "Elektro kardiogramm". Das Stück eröffnet mit Herzschlagtönen, was an sich gängig und vergessenswert wäre. Doch dann kommen Atemgeräusche und ein Beat höchster Order hinzu, der mit gespenstischer Wucht gegen die Melodie anläuft. Das zeugt von musikalischer Potenz, die nie vergeht. Alle Entmenschlichungstendenzen, die man Kraftwerk im Unverständnis ihres Ansinnens unterstellen mochte, werden jedenfalls auf Anhieb hinfällig.

Jedes der Stücke streckt sich im Windschatten des folgenden, denn jedes nimmt Elemente des Vorgängers auf. Sogar die Single fügt sich ins Gesamtwerk ein und kann als Techno gelten, dem die Kühle und jede Assoziation mit Piercing und Tattoo gehörig ausgetrieben wurde. Die Texte, in einem Mix aus Französisch, Deutsch, Englisch und Kraftwerkslang gehalten, gleichen Minimalpoesien, von Asketen verfasst, aber mitnichten von Weltfremden. In "Vitamin", einem Rosenkranzgebet der Fitnessreligion, hört sich das so an: "Kalium Kalzium/Eisen Magnesium/Mineral Biotin/Zink Selen L-Carnitin/Adrenalin Endorphin/Elektrolyt Co-Enzym/Carbo-Hydrat Protein/A-B-C-D-Vitamin". Bedarf es mehr Worte, wo doch an allen Ecken ein Mitteilungsdrang ohnegleichen herrscht?

Alles hier zeugt von der Anwesenheit gleichermaßen des Bewusstseins wie des Gefühls - und das ist weit mehr, als man im Musikbusiness heute sonst vorfindet.

© Adam Olschewski; FR - 08/2003
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