ANOREXIA 9.5 | Zwischenräume und vermietete Inseln | SCULPTURE PLAN



Die Galerie da unten
und das Fernweh




Über
das gedankliche Netz
der Ideen und Konzepte
das Leben am Platze
und die Sehnsucht nach Weite
von Klaus d. Michel

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28.04.1995 21:05

Ein 3D-Trickfilm aus der Multimedia-Version von ANOREXIA 3 (*1) läßt den Betrachter auf die COOP-Tankstelle zufliegen, während ein kubisches Wesen in ihr Glasauge eintritt und sich im Raum auflöst.
Das war im frühen vorigen Jahr. Damals standen wir, die KUNSTcoop, mit unserem Büro noch am Anfang. Die routinemäßige Pressepublizität war noch frisch und wir waren mit Skepzis neugierig darauf, ob es denn gelänge, unsere aesthetischen Vehikel ausgerechnet in das Weichbild Bielefelds zu impfen.
So blieb blieb fast nichts unversucht. Brot wurde getoastet, Mehl gewalkt und geschlagen, Fliegen in Erdhügeln gezüchtet, Schweine mit Perlen beworfen, Federn zu Kreisen geblasen, das Geld der Passanten gefordert, Wasser gepumpt und gefiltert.
Was heißen soll: ohne das Büro wäre diese Stadt ärmer. Bist du schon mal dort gewesen? Designstudenten nennen sie "die Galerie da unten", wie auch immer das interpretiert werden darf.
"Nicht Kunst ausstellen, sondern einen kunstvollen Prozess in Gang setzen." Prozess und Bewegung. Material und Idee und Kunst und Alltag. Virtuelle Zeppeline von hier bis so weit wie möglich. Wo auch immer du dich gerade aufhälst, du stehst im gedanklichen Netz der Ideen und Konzepte. Dafür steht das temporäre Büro für Kunst, das seit der Gründung der COOP immer Mittelpunkt aller Projekte war. Ein wunderbares Konzept. So schön unscharf. Fuzzy. Ein solches Büro kann praktisch überall auftauchen. Aus dem Nichts und in jedes Weichbild hinein.
Was also soll bei so viel virtueller Potenz die Last des Materiellen. Die langweilige Konzeption des Stationären. Das Glasauge müßte das kubische Wesen wieder ausspucken auf´s Dach des Doppelpilzes, der daraufhin seine beiden Landebeine einfahren und sich in die Luft erheben müsse.

29.04.1995 16:48

Ich spreche jetzt nicht vom Trip nach Gomera.
Selbst eine auch noch so kurze Reise kann dein Leben mehr verändern als tausendundein Alltag. Deine Wahrnehmung bekommt Flügel, du denkst schneller und assoziativer. Deine Imagination und die Außenwelt geraten in fruchtbare Schwingungen, herrlich vibrierende Interferenzen durchwehen dein Herz.
Ist das eine die Konzeption des festen Standpunkts, so ist das andere die Idee der Bewegung und ohnehin mit Künstleraugen betrachtet die modernere und attraktivere Grundhaltung. Über die Möglichkeiten künstlerischer Einwirkung auf die Wirklichkeit der Metropolen erfährt man mehr, wenn man selbst nur temporär am Platze bleibt. Gewöhnung schläfert ein und trübt dein Bewußtsein.
Schon mal was von den Aestheticles gehört? Jene mysteriösen kreativen Vehicel, die sich Zellteilungen gleich in Raum und Zeit ausbreiten und ihre Initiationen, ihre Zündungen erfolgen dezentral im Netz der Ideen und Konzepte. Phantastische Visionen, die schon andere vordenkend durchspielten. Die unsichtbare Universität von David Greene (*2), Beuys' Idee der Freien Europäischen Universität als Institution ohne Institut, das Pool-prozessing der Hypertextphilosophen Idenson und Krohn (*3) ... bis zum temporären Büro für Kunst. Alles und noch viel mehr aus dem gleichen geistigen Rückraum. Die Philosophie, die aus den architektonischen Visionen von Archigram (*4) schimmert. Walking Cities - deine Stadt ist morgen anderswo, auf deinem komfortablen Cushicle (*5) lebst du auch dort ebenso behaglich wie gestern noch am anderen Ort.

30.04.1966 18.30

Rückblick
Das Luftschiff "M3" (*6) wird längs zur Hauptstraße der Stadt manövriert. Immer wieder ein kniffliges Unterfangen, aber das Team gibt sich auch dieses mal alle Mühe. Das Netz, gestern schon von lokalen Gruppen auf Level 2 und 3 installaliert, hält alle Vorsorgungseinrichtungen bereit. Noch während der Drehung des Schiffes werden die ersten Kabel herabgelassen. Auf den Straßen fließt der normale Verkehr. Noch! Denn nun geht es unweigerlich der Phase höchster Intensität entgegen... "und wenn wir besessen sind, können wir im Leben alles erreichen. Du schaffst es - wir sind ein Wunder. Wir fallen hin und stehen wieder auf. Wir sind die Hüter der Gedanken." (*7) ...unter metallischem Rasseln werden nun die ersten silbrig glänzenden Projektionsflächen ausgefahren.

30.04.1995 23:22

Warum machen wir eigentlich Kunst? Für diejenigen, die bei uns fünfunddreißig Mark für einen Sprengsatz zahlen? Den sie dann höchstpersönlich in unserem Büro zünden. Ultraviolette Stichflamme? Oder machen wir Kunst für unsere Köpfe? Kunst findet auf alle Fälle nicht da statt, wo Kunst stattfindet. Interessierst du dich überhaupt für den Plan? Wahrscheinlich nicht die Bohne. Und trotzdem trägt jeder eine Spur der Vision in seinem Herzen und seinem Verstand. Dort fängt die Kunst an, dort springt die Wahrnehmung aus den Gleisen. "Jeder ist ein Künstler." (*8)
Ein durchaus positiver Starrsinn, die Fahne weiter in den Wind zu heben. In Zeiten bewegungsloser Raserei und lautlosen Gekreisch'. Melancholie und Sehnsucht. Das Hauptaugenmerk aber liegt auf der Ökonomie der Bewegung. Das Labyrinth dauert noch an, und wenn wir uns stetig bewegen und den Faden weiter nachlassen, spannen wir ein neues Netz im Netz im Netz...

19.03.96 01:05

ready for take off



















*(1) Edition Lavallas; ANOREXIA 3
auf Papier und zwei Floppies


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*(2) Vorstellung von einer unsichtbaren
Universität als Linien in der Landschaft;
Denkkonzept von David Greene und Sally Hodgson;
Archigram 1971


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*(3) Poolprocessing;
Denklabor per Hypertext-Ideengeneratoren
Medienkunstfestival in Osnabrück 9/88


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*(4) Archigram;
Zeitung einer gleichnamigen englischen
Architektengruppe 1962 - ~72


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*(5) Cushicle;
Wohnzelle auf Rückentragegestell,
Michael Webb; Archigram '67;
cushion (eng): Bag filled with mass of soft material


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*(6) M3
Luftschiff der Instant City,
eines Projekts zur mobilen, kulturellen
Vernetzung am Modell Englands;
Archigram 1969


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*(7) "Die Hüter der Gedanken"
Zeitarbeiten Video COOP '93


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*(8) "Jeder ist ein Künstler";
Kunst als Nahtstelle zu realer Praxis,
als gesellschaftliche Kraft im unmittelbaren Sinne,
so überliefert von Beuys


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