Man konnte nicht umhin, an eine Messe zu denken, als am Dienstag abend die amerikanische, vom Einstein-Forum eingeladene Philosophin Judith Butler in der Berliner Staatsbibliothek auf ihr Publikum traf. Bis hinaus auf die Potsdamer Straße standen die Zuhörer, die nur noch aus Lautsprechern verfolgen konnten, was im beängstigend vollen Otto-Braun-Saal vor sich ging. In eindringlichem, getragenem Ton präsentierte Butler, die zur Zeit Professorin für Rhetorik an der Universität Berkeley ist, ihre Überlegungen zur Figur der Antigone.
Antigone, Tochter von Ödipus und Jokaste, begräbt, entgegen dem Gesetz ihres Onkels Kreon, ihren im Kampf gegen Theben gefallenen Bruder Polyneikes und wird zur Strafe lebendig in ein Felsengrab eingeschlossen und erhängt sich.
Butler, angeregt durch die Frage, wie es dazu gekmmen sei, daß amerikanische Feministinnen plötzlich staatliche Unterstützung für ihre Forderungen suchten, statt auf Subversion zu setzen, spielt die verschiedenen Lesarten der Tragödie durch. Die feministische - vertreten durch Luce Irigaray - sieht Antigone als Heroine des zivilen, apolitischen, matriarchalen Widerstands gegen die männliche Staatsgewalt. Hegel wiederum sieht eine Aufwärtsbewegung, einen geschichtlichen Fortschritt von der familialen Bindung (Antigone-Polyneikes) zur staatlichen Ordnung (Kreon), weil diese nach universalistischen Prinzipien agieren kann: Sie ist so frei, sich von Blutsbanden nicht mehr bestimmen lassen zu müssen.
Schließlich zitiert Butler mit Jacques Lacan die strukturalistische Lesart, nach der sich Antigone auf der Grenze zwischen dem Symbolischen - also dem Raum der Normen, Gesetze und der Sprache - und dem Imaginären bewegt, eben indem sie Verwandtschaft zu ihrem Gesetz erhebt.
Für Butler, deren Publikationen ("Körper ohne Gewicht", 1995; "Das Unbehagen der Geschlechter", 1991; "Der Streit um Differenz", 1993) um die soziale Konstruktion der Geschlechtlichkeit kreisen, haben alle drei Lesarten einen entscheidenden Haken: Sie alle trennen die Sphäre der Verwandtschaft und die des Sozialen, also die Blutsbeziehungen von den freiwillig gewählten. Deshalb versucht Butler, Antigone aus der bloßen, "unschuldigen" Schwesternschaft herauszueisen. "Wenn Antigone überhaupt etwas repräsentiert", so Butler, "dann ist es der Inzest, die Auflösung der Verwandtschaftschaftsbeziehung durch die Liebe, die sie erfüllt."
Man ahnt schon, worauf das hinausläuft, und ungeduldiges Füßescharren in den Reihen der Zuhörer signalisierte auch, daß viele gekommen waren, um die sich hier formierende philosophische Legitimation einer sexuellen Präferenz zu hören, und nicht umgekehrt die Attraktion einer philosophischen Übung auf sich wirken zu lassen.
Antigone ist also für Butler - weit entfernt davon, die familiale Ordnung zu stabilisieren - eine höchst ambigue, in der Tragödie oftmals als "männlich" angesprochene Figur, die der "perversen" Neigung und nicht einfach dem Blut folgt. "Ich stelle diese Fragen", so sagte Butler endlich zur allgemeinen Erleichterung, "in einer Zeit, in der die Familie in geradezu nostalgischer Weise verklärt wird, in der der Vatikan gegen Homosexualität wettert, die nicht nur als Angriff auf die Familie gegeißelt wird, sondern auch als Angriff auf die Vorstellung vom Menschen schlechthin, die nur in der Familie verwirklicht werden könne." Ach, wenn es den Vatikan nicht gäbe. Wer sonst könnte heute noch herhalten für die Vision von den aufoktroyierten family values? Mag schon sein, daß inzwischen auch Amerikas Liberale von ihnen schwärmen, aber könnten sie gegen die real existierende Lebenspraxis an, in denen schwule Familien längst eine Norm sind?
Niemand regte sich, als Butler sich schließlich dazu verstieg, diejenigen "mit einer Liebe, für die es keinen legitimen Platz in der Kultur gibt", als Todgeweihte und Aids als eine quasi sozial verhängte Strafe zu deklarieren. Wie im Phantomschmerz agierend, sprach Butler zu einer Gemeinde der längst Konvertierten. Aber bei den wirren Einlassungen der Moderatorin, der Frankfurter Philosophin Bettina Menke, fiel das wohl nicht so auf.




copyright by neid, den künstlern und autoren