Heiko Wichmann

Der Track im Mix

Ein Gespräch über das DJ-Konzept

veröffentlicht
in: "Spuren" Nr. 40 (September 1992)

Westbam wurde 1965 als Maximilian Lenz geboren. Unter seinem Pseudonym hat er entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Tanzmusik nehmen können. Er hat die Berliner Produktionsgesellschaft "Low Spirit" gegründet, der ein Studio angeschlossen ist, und deren Produkte heute durch die Polydor GmbH vertreten werden. Ende letzten Jahres ist dort seine LP "A Practising Maniac At Work" erschienen.

Wichmann: Kannst Du eine Beschreibung der Musik geben, die Du machst?
Westbam: Ich habe 1983 angefangen Platten aufzulegen. Als DJ ist mir aufgefallen, daß verschiedene Platten zu etwas Selbständigem zusammengesetzt werden können. 1985 habe ich die erste Platte gemacht. Meine Musik entwickelte sich aus der DJ-Tätigkeit. Komponieren war für mich zuerst das Zusammensetzen von Platten. Heute setze ich nicht mehr so viel aus Platten zusammen, aber die Denkweise ist im Prinzip dieselbe geblieben.
Wichmann: Du hast das Zusammensetzen von Platten nie als Zitatarbeit verstanden.
Westbam: Ich habe zwar viel gesamplet, das Resutat aber nicht als Medley oder als Zitatensammlung aufgefaßt. Es sollte ja nicht Stückwerk bleiben, sondern eine neue Form, in der die einzelnen kleinen Sachen ihren Eigenwert verlieren.
Wichmann: Wie ist der Aufbau der Musikstücke? Notierst Du einzelne Spuren? Wie kennzeichnest Du das, was Dich interessiert?
Westbam: Ich habe unter Berücksichtigung der technischen Weiterentwicklung verschiedene Methoden benutzt. Meine Urmixes habe ich mit Plattenspielern zusammengestellt, auf Tonband aufgenommen und mit Hilfe des Tonbandes weiter editiert. Heute arbeite ich natürlich auch mit Sampler und Sequenzer. Dadurch kann der Eindruck entstehen, daß ich heute eigenständiger arbeite. Das Lob "Jetzt-spielt-er-eigene-Stücke" ist mir aber ein Graus. Gegen diesen Eindruck kämpfe ich mit meiner Musik an. Im Grunde macht es für mich keinen Unterschied, ob ich eine Loop selbst eintippe oder einen Fetzen von woanders hernehme.
Wichmann: Die Ablehnung des Eigenständigkeitsprinzips bewirkt keine Stillosigkeit. Du beziehst dadurch Stellung und grenzt Dich ab.
Westbam: Ich bin verantwortlich für das, was entsteht. Auf dem Weg dorthin gehe ich mit Spuren von anderen um, die anderes gemacht haben. Aber den Künstler möchte ich sehen, der 1992 behauptet, seine Arbeit sei ihm von oben, als eine unregelmäßige Eingabe der Natur vorgeschrieben. Der Geniebegriff, um den sich Kant sorgt, läßt sich heute nicht mehr zu gebrauchen. Ich glaube vielmehr, daß jeder aus seiner Umwelt aufnimmt, was in dieser Umwelt von ihm oder anderen weiterprozessiert werden kann. Tatsächlich sind ja Einheiten, die ich zusammengesetzt habe, von anderen Musikern weiterprozessiert und zu neuen Einheiten zusammengesetzt worden.
Wichmann: Mit welchem Selektionsprinzip arbeitest Du?
Westbam: Ich unterscheide nicht zwischen Samples von Gruppen, die ich gut finde und solchen, die ich nicht gut finde. Die Samples dienen allein der entstehenden neuen Einheit, unabhängig von ideologischen Wertungen von Geräuschquellen. Ich bewerte das Geräusch nicht nach dem Menschen, der es hervorgebracht hat.
Wichmann: Unterscheidet sich darin das DJing vom Zitieren?
Westbam: Möglicherweise. Die Auswahlskriterien, mit denen ich arbeite, sind mir nicht vollständig bewußt. Ich habe auch immer mit dem Zufall gearbeitet. Wenn man sucht, weiß man, was man finden will und das Ergebnis ist nicht überraschend. Oft habe ich die überraschendsten Geräusche gefunden, wenn ich die Nadel ohne Vorauswahl auf eine beliebige Platte gesetzt habe. Aber es kann ebenso vorkommen, daß ich zwei oder drei Geräusche finde, aus denen sich das weitere logisch ergeben muß. Das suche ich dann gezielt in meiner unordentlichen Plattensammlung.
Wichmann: Welche Medien benutzt Du bei der Suche?
Westbam: Jingles und Tiergeräusche habe ich neben Plattenspuren auch immer schon verwendet. Das sehe ich ebenfalls in dem DJ- Kontext. Die Klospülung oder das Autobremsen sind klassische Jingles, die ich als anonyme DJ-Jingles verwende.
Wichmann: Du gehst nicht mit dem Richtmikrophon nach draußen?
Westbam: Das ist nicht notwendig, um Geräusche herzustellen, die diskutiert werden. Das bekannteste Geräusch, das ich in die Diskussion gebracht habe, ist das "Uh-Uh-Uh" von "Monkey Say, Monkey Do". Inzwischen ist es allerdings auch zu meinem Überdruß beinahe auf jeder dritten Platte zu hören. Durch die Wiederholung entziehen sich die Geräusche einer organischen Bedeutungszuschreibung.
Wichmann: Worin unterscheiden sich digitale von analogen Klängen?
Westbam: Die analogen Klänge haben stärkeren assoziativen Charakter ("Raumschiff Enterprise" etc.). In den 70er-Jahren wurde versucht, mit den analogen Synthesizern Naturgeräusche nachzuahmen. Heute haben sich die analogen Geräusche im gewissen Sinne emanzipiert, wenn sie mit der Sampling-Technik synthetisiert werden können. Die Geräusche können heute gar nicht mehr synthetisch genug klingen.
Wichmann: Im Frankfurter DJ-Magazin "Frontpage" (12/91) hast Du unter futuristischem Blickwinkel eine politische Einschätzung des analogen und digitalen Sounds versucht.
Westbam: In dem Essay ging es mir um eine Kritik der Mystifikation und Prätention, die in dem wieder um sich greifenden Gebrauch der analogen Synthesizer und Boxen zum Ausdruck kommt. Die Möglichkeiten der Technik werden ad absurdum geführt. "Wir setzen an zu dem Flug hinter den Bildschirm. Komm an diesen mystischen Ort, den wir Cyberspace nennen." Diese allgegenwärtigen Vokabeln helfen nicht weiter. Die Musik, die mit diesen alten Instrumenten gemacht wird, halte ich dennoch aber für das Größte, was in der populären Musik zur Zeit gemacht wird. über Nirvana hätte ich noch ganz anders geschrieben. Wenn dieser "Tekkno" Mittelalter ist, ist der moderne Rock'n'Roll Steinzeitalter.
Wichmann: Du unterscheidest analoge und digitale Klänge nicht nach ihrer formalen Codierung, sondern nach der Zukunft, die sie projizieren?
Westbam: Ja, die analogen Instrumente projizieren eine nostalgische Zukunft, die allerdings auch ihren Charme hat. Wenn ein analoger Sound, den Pink Floyd bereits entwickelt haben, die heute entscheidende Zukunftsvision sein soll, halte ich das für irrsinnig. Was mich auch irritiert, ist die Tatsache, daß über diese Musik wieder in Werkkategorien nachgedacht wird. Das widerspricht der Konzeption des Tracks und dem Werden der Musik. Das Prinzip der Raves am Abend besteht darin, die Werke ineinander aufzulösen und als Werke zu vernichten. Die Tracks (Beatbox- Sequenzer-Spuren) sind für sich völlig bedeutungslos und erhalten ihren vorübergehenden Sinn erst an dem Abend im Mix, wenn der DJ das Material in seinem Zusammenhang benutzt und weiterprozessiert. Erst dann wird der Sound erkennbar. Insofern habe ich auch die Plattenkritiken, die den Track in Werkskategorien besprechen, immer sehr unzulänglich gefunden.
Wichmann: Bei Deinen Platten handelt es sich nicht um Tracks, sondern um Mixes, denen die Rave-Erfahrung bereits eingeschrieben ist.
Westbam: Das ist richtig. Ich habe natürlich auch den Hang, Werke zu machen, wenn ich das, was mir an einem Abend im Gedächtnis geblieben ist, auf Platte bringe. Aber ich kontrolliere diese Tendenz, indem ich meine Stücke offen und kompatibel zu anderen halte. Diese Stücke sind der Mikrokosmos eines Abends, den ich erlebt habe, um einem neuen Abend zugeführt zu werden, an dem sie wieder untergehen können. Da die Musik sich entlang der Raves entwickelt, hat die elektronische Musik in England ganz andere Formen angenommen als die in Deutschland.
Wichmann: Werden auf den Raves am Abend die Geräusche musikalisch formuliert, die die Stadt tagsüber durch ihren Verkehr produziert?
Westbam: Klaus Jankuhn, mit dem ich zusammenarbeite, vertritt die These, daß der subsonic bass der Techno-Musik seinen Ursprung im Straßenverkehr hat, in dem der Körper von den tiefsten Frequenzen durchdrungen wird. Die Bass-Vibrationen der Motoren können auch im Auto nicht durch das eingebaute Radio übertont werden. Von daher kommt möglicherweise das Bedürfnis nach dem subsonic bass im Technobereich.
Wichmann: Die stilistischen Mittel definieren sich also anders als in der Kulturindustrie, in der das Begehren in vermeintlicher Entgegensetzung zum gesellschaftlichen Verkehr stillgestellt wird.
Westbam: Das ist sogar wissenschaftlich untersucht worden. Die Arbeit an der lauten Maschine bestimmt den Musikkonsum in der Freizeit. Die Leute wollen sich ja die Kante geben.
Wichmann: Du hast vor einigen Jahren mit westrussischen Musikgruppen zusammengearbeitet: 1987 mit Popularnaja Mechanika in Riga, 1988 mit Eastbam in Berlin. Welche Erfahrungen hast Du gemacht?
Westbam: Die Pop Mechanics sind aus Leningrad - aus St. Petersburg, wie man heute sagt. Eastbam kommt aus Lettland. Die haben heute alle viel mit sich selbst zu tun. Die nationalen Konflikte verdrängen im Moment das Interesse an der Musik. Neulich hat Eastbam angerufen. Vielleicht werde ich Ostern dort auftreten. Die Pop Mechanics sind in Riga an mich herangetreten, als sie dort während ihrer Tournee auftraten. Sie fragten mich, ob ich Lust hätte, bei ihrem Konzert am folgenden Abend Platten aufzulegen. Von diesem Auftritt ist ein Kassettenmitschnitt gemacht worden, der dann bei What's So Funny About erschien. Die Aufnahme ist ein interessantes Dokument. Es war auch immer mein Interesse, die Prinzipien, die ich im Tanzbereich entwickelt habe, auf andere Bereiche auszudehnen. Und wenn es sich ergibt, mache ich mit diesen Prinzipien auch Nicht-Tanzmusik.
Wichmann: Was ist Nicht-Tanzmusik im Unterschied zur DJ-Musik? Konzertmusik oder Studiomusik?
Westbam: Nicht-Tanzmusik ist Konzertmusik, keine Studiomusik. Ich lehne Konzertauftritte auch nicht ab. Wenn mich jemand einlädt, gehe ich auch in die Philharmonie und finde das ganz großartig. Was ist albern und pervers finde, ist das Vorspielen von Konzerten: Bänder und vier Affen, die sich dazu auf der Bühne verrenken. Diese Diskrepanz ist nun aber aufgetreten durch die technologische Entwicklung, die veränderte Produktionsbedingungen in die Studios brachte. Das Bassist-Gitarrist-Schlagzeuger- Ensemble versucht, eine veränderte Musik als gleichgebliebene zu verkaufen. Dabei ist die Musik tatsächlich im Studio mit Computer und Sampler nicht real-time, sondern step-by-step entstanden.
Wichmann: Die Präsentationsform muß mit den eingesetzten techno- logischen Mitteln zur Deckung kommen?
Westbam: Ekelhaft finde ich Shows, wo Erwartungen befriedigt und damit die Dummheit einer Masse bestätigt werden soll. Das finde ich einfach ekelhaft. Live-Arbeit, Spontaneität und Zufall habe ich aber nie abgelehnt. Das kann man in meiner Musik wiederfinden. Die Herausforderung der Technik liegt für mich darin, das Leben einzubeziehen. Es kann nicht alles step-by-step gemacht werden. Das kann man von der schwarzen Musik lernen, der schwarzen Techno-Musik, in der die Technik weniger gebraucht, vielmehr mißbraucht wird.
Wichmann: In Europa gibt es im Vergleich mit den USA aber noch gar keine Straßen oder Viertel. Ghetto-Situationen sind hier noch nicht die unhintergehbare Voraussetzung künstlerischer Produktion. Hier werden künstliche Elendsquartiere geschaffen, um an diesem schöpferischen Prozeß beteiligt zu sein: Die Halle in Berlin im Dezember letztes Jahr und das Eis- und Schwimmstadion in Köln im April dieses Jahr ("Mayday"). Du hast jetzt dazu das Titelstück geschrieben. Wie stehst Du dazu?
Westbam: Von den Massenveranstaltungen können die Amerikaner nur noch träumen. Letztes Jahr war ich in New York: auf drei Parties gab es drei Tote. Aber zwischen dem Elend dort und den Großveranstaltungen hier sehe ich keinen Zusammenhang. Die kleineren Parties gibt es untergründig auch weiterhin: Tresor, Planet, Tabu, Walfisch etc. Die Parties zeichnen sich dadurch aus, daß keiner weiß, wo sie sind, und daß sie nicht genehmigt sind. Bei den Großveranstaltungen freut es mich, zu sehen, daß die DJs aus den Kellern für einen Moment Pop-Erfolge feiern können. Für mich besteht der in musikalischer Hinsicht entscheidende Zusammenhang zwischen der Technik und ihrem Mißbrauch. Die Geschichte des Mixes ist eine Geschichte des Mißbrauchs. Das Tempo wird manipuliert, die Platte wird abgebremst, angeschoben, zurückgezogen, die Nadel wird beschädigt etc. Nach der gescratchten Platte kamen die Beatbox und das Mischpult. Und die Geschichte geht weiter. Vielleicht kann man das auch als Jazz begreifen, als Improvisation mit Technik, die ihren spezifischen Groove entwickelt.
Wichmann: Mit der CD hat die Industrie ein Instrument entwickelt, das den Jazz und den schwarzen Einfluß aus der Technik verbannen soll.
Westbam: Die Industrie hat sogar versucht, in die CD-Technik den Umschlag vom Gebrauch in die mißbräuchliche Verwendung zu integrieren. Und man kann die Scratch-Simulationen auf allen Kanälen hören. Aus dem stereotypen digitalen Knarren ist das Geräusch, an dem man seine Freude hat, nicht mehr herauszuhören. Die verschiedenen Geräusche klingen gemäß der Leseform des Computers alle gleich. Aber ich liebe die digitale Technik, weil ich weiß, daß auch sie nicht die Perfektionierung der Industrie verwirklichen wird. Der Sampler wurde anfangs noch benutzt, um Wassertropfen und Tennisbälle einzufangen; später schlug dieser Gebrauch in Mißbrauch um, als sich die DJs Loops klauten und damit andere Zusammenhänge herstellten. Die industriellen Imitationen lassen sich dort mißbrauchen, wo ihre vorgesehene Funktion nicht greift. Als perfektionierter Plattenspieler ist der CD-Player für DJs uninteressant.
Wichmann: Verstehst Du Deine Musik als Elektronik- oder als Computer-Musik? Oder faßt Du die Technik im DJ-Begriff und Mix- Konzept zusammen?
Westbam: Für mich ist es DJ-Musik. Aber es ist natürlich auch elektronische Musik. Ohne Strom kann ich diese Musik nicht machen. Aber nicht nur DJ-Musiker sind vom Strom abhängig.
Wichmann: Aber neben der Stromzufuhr der Industrie gibt es andere Formen.
Westbam: Zunächst kommt der Strom schon aus der Steckdose. Aber den kann man transformieren - in Public Energy.