Heiko Wichmann

Von K. zu Karnau

Ein Gespräch mit Marcel Beyer über seine literarische Arbeit

nicht veröffentlicht

Marcel Beyer (*1965) lebt in Köln. Er arbeitete als Lektor bei der Literaturzeitschrift "Konzepte", veröffentlicht eigene Texte in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien, editiert und übersetzt Texte anderer Autoren. 1991 erschien sein Roman Das Menschenfleisch bei Suhrkamp. Einen zweiten Roman zum Zeit- und Geschichtsraum 1933 - 1945 hat er gerade abgeschlossen.

Wichmann: Was ist "Konzepte"?
Beyer: Jahrelang war das eine Zeitschrift, die einen Bogen umfaßte, 16 Seiten. Das war nicht besonders viel: ein Interview und zwei Gedichte. Dann hatte Stefan Sprang das Blatt übernommen. Ich wurde gefragt, ob ich mitmachen wollte, und da habe ich zugesagt. Stefan Sprang war auf mich zugekommen, weil er sich während seines Praktikums bei Suhrkamp mit meinem Text (Menschenfleisch) beschäftigt hatte. Ich wurde gefragt, ob ich als Prosalektor einsteigen wollte. Der Lyriklektor fiel dann aus, woraufhin ich plötzlich für alle eingesandten Texte zuständig war. Alle möglichen Leute schickten mir ihre Texte. Das war eigentlich nicht im Sinne des Erfinders. Das habe ich jetzt 2 oder 3 Jahre gemacht. Unverlangt eingesandte Manuskripte sind nicht immer ganz so doll. Leute waren dabei, die wohl gerade fünf Gedichte geschrieben haben und eigentlich nur jemanden suchen, der ihre Sachen liest. Die wollen im Grunde eine Beurteilung ihrer Arbeit, möglichst eine positive. Die kriegen dann eine Absage - und sind sauer. Ich habe meine Texte auch jahrelang an irgendwelche Zeitschriften gesendet und überhaupt nichts gehört. Das muß man abkönnen, sonst kann da überhaupt nichts draus werden. Da eigentlich nicht so viele interessante unverlangt eingesandte Manuskripte dabei waren, habe ich selber nach Texten gesucht. Irgendwann hatte ich dann eigentlich alle, die mich interessierten, die ich kannte, ein- bis zweimal vorgestellt. Damit war mein Potential erschöpft, und ich habe das Lektorat wieder aufgegeben. Das Lyrik-Lektorat hat jetzt ein junger Lyriker aus Köln, Thorsten Krämer. Einen ausdrücklichen Prosa-Lektor gibt es im Moment nicht.
Für "Konzepte" schreibe ich auch Artikel. Die Ausgabe Nr. 13 habe ich quasi ganz organisiert. Wir hatten immer so 20 Seiten Literatur. Das war mir bei 180 Seiten Zeitschrift zu wenig, vor allem wenn es eine Literaturzeitschrift sein sollte. So haben wir mit der Nr. 13 eigentlich eine Anthologie gemacht, nur mit Literatur.
Wichmann: Bei "Konzepte" gibt es Auseinandersetzungen um das Verhältnis zwischen Prosa und Lyrik?
Beyer: Es ist viel Theoriekram da drin. "Literatur und neue Medien" - das sind ja Dinge, die mich nicht so unbedingt interessieren. Das "und" verbindet weniger, als daß die Gegenüberstellung auf das Thema Medien hinausläuft und mit Literatur nichts mehr zu tun hat.
Wichmann: Ich finde die Literatur in "Konzepte" sehr frisch. Im Gegensatz zum Literaturbetrieb wird Literatur nicht mit Innerlichkeit und Phantasie übersetzt.
Beyer: Das hat auch mit Geschmack zu tun. Oder mit dem, was mir auffällt, wenn jemand Texte vorliest. Das guck ich mir dann genauer an. Das ist dann oft so abgedrehtes Zeug. Was mich aufhorchen läßt, das möcht ich dann auch gerne haben. Die meisten Einsendungen sind halt so: 'ich fühl' mich heute schlecht' etc. Was es auch sehr oft gibt, sind zotige, halb-pornographische Sachen, die irgendwelche 17jährigen schreiben. Die haben sich unter der Schulbank gerade mal einen Bukowski angeguckt. Oder formale Übungen: 'über 60 Gedichte, geschrieben im Stil der großen deutschen Lyriker (anbei eine kleine Auswahl).' Dafür gibt es auch Zeitschriften, aber dafür ist "Konzepte" nicht da.
Wichmann: Was macht "Konzepte" interessant? Ist es "junge" Literatur? Das Attribut klingt wie ein Verkaufstrick.
Beyer: Wir arbeiten nicht mit Diktaten, weder "Realismus-" noch "Avantgarde-Dikatat". Jeder soll das lesen, was er will. "Konzepte" arbeitet in dieser Nische, wo junge Autoren das bringen, was nicht am Markt durchgesetzt ist. Wonach sich die Verlage auch nicht unbedingt reißen - nicht weil es so schlecht wäre, sondern weil sie dem nicht so hohe Verkaufszahlen zugestehen.

Kampf der Genres

Wichmann: Auch große Verlage entdecken mittlerweile das Verkaufspotential "junger" Post-Brat-Pack-Literatur.
Beyer: Serie Piper bringt jetzt knallige Romane aus der Gosse - aber das ist es auch nicht, was ich meine. Tama Janowitz hat in Deutschland im Heyne Taschenbuch angefangen, weil die auf das "Bravo"-Publikum geguckt haben. Genauso Kathy Acker. Erst später haben die begriffen, das das keine Jugendbücher sind. Bret Easton Ellis ist zunächst bei rororo-panther herausgekommen. Der Import aus Amerika hat aber bislang keine fördernde Wirkung für junge deutsche Literatur. Vielmehr wird versucht, die beiden Seiten gegeneinander auszuspielen. "Bret Easton Ellis verkauft 200.000 Exemplare, also hört endlich auf mit Eurer Kleinschreibung!" bekommen wir zu hören. Aber ich weigere mich, Genres gegeneinander auf- oder abzuwerten. Man findet genauso furchtbar langweilige dicke Romane wie furchtbar langweilige Konkrete Poesie. Die Machart allein verbürgt noch nicht Qualität oder Aufregung. Formal ist Bret Easton Ellis sicherlich nicht avantgardistisch. Aber er hat etwas bewegt. Er hat die Leute angepackt. Der amerikanische Literaturbetrieb ist völlig anders als hier. Dort lernt man nicht so sehr durch eigene Leseerfahrung. Die Erfahrung ist da enger mit der Schreiberfahrung verknüpft. Auch die Struktur des Landes ist anders. Es ist ein weites Land, in dem man nicht so schnell einen Bestseller machen kann wie hier. Einer meiner Lieblingsautoren ist William Burroughs. Den würde ich aber gar nicht unbedingt als amerikanischen Autoren bezeichnen wollen, weil er sehr lange Zeit überhaupt nicht in Amerika war.
Wichmann: Und der Acid- und Beat-Austausch in den 60er- und 70er-Jahren?
Beyer: Das furchtbare ist ja, daß das so schnell zur Neuen Innerlichkeit und Subjektivität geworden ist. Rolf Dieter Brinkmann war mit "Westwärts 1 & 2" schon weiter. Andere haben da noch über einen Bund Petersilie geweint. Die 70er-Jahre waren schlecht für die deutsche Lyrik und die deutsche Sprache.

Verschiedene Schattierungen von Schwarz entstehen sehen, die Schrift unlesbar machen, Ruß, wie das Papier zerfressen wird. Die Ränder reißen ein und falten sich nach innen, bis dann ganz schwarz oder auch grau nur Asche bleibt und Fetzen, die sich atomisieren in der Hand. (Das Menschenfleisch, p. 58)

Wichmann: Wo siehst Du im Moment interessante Entwicklungen?
Beyer: Im Moment gibt es mehr interessante Literatur als in den ganzen 70er-Jahren zusammengenommen. Es gibt bekanntlich diesen larmoyanten Ton, daß es keine neuen Talente gäbe. Im Luchterhand "Jahrbuch der Lyrik" schreibt der Herausgeber, Christian Buchwald, das auch. Wenn jemand seit 20 Jahren Lektor ist, kann der auch gar nicht mehr offen sein für Neues. Aber die Leute, die heute lamentieren, sollen doch fünf Lyriker nennen, die in den 70ern debütierten und auch heute noch interessant sind. Die gibt es nicht. Man kommt höchstens auf drei. Wenn man Texte nebeneinander legt, gibt es heute interessantere Ansätze - auch wenn man nicht mit Sicherheit sagen kann, was Bestand haben wird. Heute lese ich vor allem Texte von Leuten, die ich kenne, deren Entwicklung ich verfolgen will.
Es gab ja dieses unsägliche Schlagwort der "Neuen Kölner Dichterschule". Das ist völliger Quatsch! Thomas Kling ist 1987/88 nach Köln gezogen. Ich bin nach Köln gezogen. Norbert Hummelt ist nach Köln gezogen. Und Dieter M. Gräf ist als letzter auch nach Köln gezogen. Daraus haben manche Kritiker den Schluß gezogen, daß hier der Dichtertigel sei. Der erste, der diesen Begriff gebraucht hat, ist wohl Michael Braun. Der Begriff lehnt sich an den Ausdruck "Kölner Schule" (um Dieter Wellershoff) an, was allerdings auch ein Medien-Fake war. Ich habe mit Wellershoff gesprochen, und er meinte auch, daß es das gar nicht in dieser Form gegeben hätte. Er war lediglich Lektor bei Kiepenheuer & Witsch. Er hat einfach bestimmte Autoren veröffentlicht. Und das sollte dann die "Dichterschule" sein! Tatsächlich ist jeder Name eine Ausnahme und kann letztlich nicht unter dem Oberbegriff subsummiert werden.
In Köln gibt es kleine regelmäßige Veranstaltungen, wo man sich trifft und wo gegenseitig Texte vorgestellt werden. Zum einen gibt es an der Universität die "Autorenwerkstatt", die Norbert Hummelt leitete. Da trifft man sich und merkt, daß man sich von den einen Texten mehr und von den anderen weniger angezogen fühlt. Die "Autorenwerkstatt" veranstaltet jedes Semester eine Lesung. Aber auch andere Veranstaltungsprojekte haben sich daraus ergeben. Dann gibt es noch das "Literaturatelier". Es gibt zwar Überschneidungen zur "Autorenwerkstatt", aber die "Autorenwerkstatt" kann ein bißchen wie eine Vorschule zum "Literaturatelier" gesehen werden. Wer im "Literaturatelier" Texte vorstellt, hat zumeist schon publiziert. Wie es heute in der "Autorenwerkstatt" aussieht, weiß ich nicht mehr genau. Seitdem ich in Berlin war, gehe ich nicht mehr hin. Aber es ist gut, wenn man bestimmte Leute alle 2 oder 4 Wochen sieht.
Wichmann: Wie hast Du Schreibpraxis gewonnen?
Beyer: Durch Schreiben und Lesen. Austausch über Diskussionen hat mir auch geholfen, aber erst später. Ich habe bei diesen Veranstaltungen auch Texte vorgestellt. Wenn man unveröffentlichte Texte vorträgt, merkt man bald, ob das was taugt oder nicht. Einige Texte sind auch in der Versenkung verschwunden, weil ich merkte, daß ich sie nicht öffentlich vortragen konnte. Lesungen sind Tests für Texte.
Mit Norbert Hummelt tausche ich mich mittlerweile seit 6 Jahren aus. Wir arbeiten zusammen, machen Lesungen zusammen - das, was man landläufig "Performance" nennt. Norbert Hummelt hat die "Autorenwerkstatt" geleitet, ist einer der beiden Moderatoren des "Literaturateliers" und arbeitet zudem noch als Kritiker.

Der Rhythmus im Text

Wichmann: Sind Eure Lesungen Tourneen? Haltet Ihr die auch in anderen Städten?
Beyer: Ja, aber die Heimspiele sind am besten. Wir haben inzwischen einen lokalen Bekanntheitsgrad erreicht, der uns volle Häuser beschert. Wir haben auch schon im Hamburger Literaturhaus gelesen.
Wichmann: Wo lest Ihr in Köln? Im "Literaturatelier"?
Beyer: Nein, das "Literaturatelier" ist kein öffentlicher Veranstaltungsort. Der ist halb-öffentlich. Da werden Texte nur vorgestellt und diskutiert. Wir lesen an verschiedenen Orten. Es gibt Autoren, die nur in Buchhandlungen lesen. Das interessiert uns aber nicht. Da kann man sich nur an die paar Leute wenden, die immer nur in Buchhandlungen gehen. Wir haben in verschiedenen Szene-Kneipen gelesen, z.B. in der "Ruine" oder im "Rhenania". Im "Rhenania" liefen einmal den ganzen Tag über Lesungen. Da haben wir dann ein Heavy-Metal-Stück aufgeführt.
Wichmann: In Deiner Literatur sind doch mehr Dub-Techniken zu finden als Heavy-Metal-Licks.
Beyer: Norbert ist der Heavy-Metal-Fan. Da ist der große Graben zwischen uns. Aber es macht irre Spaß, die Musik zu spielen. Als ich noch im Jazzorchester spielte, bekam ich immer zu hören, daß das Schlagzeug zu laut sei. Aber beim Heavy Metal kann man gar nicht zu laut sein! Norbert haßt Jazz, und ich hasse Jazz & Lyrik. Gut, wenn Ernst Jandl mit dem Vienna Art Orchestra auftritt, ist das ein absolutes Erlebnis. Aber nach dem Prinzip Erst-dudelst-Du-dann-dudel-ich aufzutreten, hat für mich zu wenig Power. So versuchen wir etwas anderes.
Es gibt viele Schriftsteller, die von der Bildenden Kunst kommen. Das trifft für mich eigentlich kaum zu. Aber ich benutze auch nicht gerade traditionelle Dub Poetry. In der Dub Poetry werden seriöse Texte, die auch gedruckt werden können, zu Reggae-Musik gesungen oder gesprochen. Ich höre das gern, aber direkt habe ich damit nichts zu tun. Norbert und ich treten meist in der Besetzung Schlagzeug plus Stimme auf. Und da ich kein echter Percussionist bin, sind da unsere Mittel begrenzt. Es ist der Spaß am Dilettantismus, der uns treibt. Ich habe gar nicht den Anspruch als echter Schlagzeuger aufzutreten. Wir benutzen alle möglichen Instrumente, die gerade zur Hand sind, auch Klavier oder Xylophon.
Norbert und ich kennen uns schon lange. Er ist die wichtigste Austauschinstanz für mich. Wir schreiben auch Gemeinschaftstexte, lesen im Duett.
Wichmann: Habt Ihr Tonaufnahmen von Euren Auftritten?
Beyer: Einmal haben wir ein Tape gemacht, aber nachdem wir 8 Exemplare hatten, war uns die Lust vergangen, weitere Kopien zu ziehen. Eine fürchtbare Klangqualität, mit einem Mikro in Norberts Wohnung in der Nacht aufgenommen. Schlagzeug und Stimme auf einer Spur. Einmal hatten wir sogar ein Video mit einem Filmstudenten gemacht. Der Vorschlag kam von ihm.
Wichmann: Welche Rolle spielt Musik bei der Komposition Deiner Texte?
Beyer: Ich bin mehr interessiert an Rhythmen als an Melodie. Die lassen sich auf literarische Techniken besser übertragen. Manchmal stimmt ein Text soweit, nur sind noch Holpersteine drin, die ich gewissermaßen raushören muß. Ich höre auch beim Arbeiten Musik.

Vom Ritual des Schreibens

Wichmann: Wie präparierst Duch Dich fürs Schreiben?
Beyer: Das sind komplizierte Rituale. Ich habe mich schon mit anderen darüber unterhalten. Bei einigen geht das über Gerüche, bei anderen mit Hilfe von Getränken. Bei welchem Krach kann man arbeiten? Einige haben keine Schwierigkeiten, neben der Autobahn zu sitzen, aber wenn ein Kind auf der Straße schreit, wirft sie das aus der Bahn.
Wichmann: Du schirmst Dich nicht ab, um schreiben zu können?
Beyer: Ich brauche nicht die Stille. Meine Techniken sind unterschiedlich, je nachdem ob es um Prosa oder um Gedichte geht. Ich komme ja von der Lyrik her und habe eine lyrische Herangehensweise. Mit Lyrik habe ich angefangen. Ein Gedicht kann einfach aus Notaten bestehen. Sachen, die man aufgeschnappt hat und dann mit anderen in Beziehung setzt. Bei der Prosa ist es vor allem wichtig, bei jedem neuen Ansatz wieder einen Überblick zu gewinnen. Wenn ich zwischendurch rausgerissen werde, kann ich nicht mehr weiterschreiben. Insofern war mein 5-monatiger Aufenthalt in Berlin sehr gut. Ich hatte im Kopf, wo etwas hinpassen würde. Um 200 Seiten zu überblicken, muß man schon sehr tief drin sein. Ich schreibe nicht von vorne bis hinten durch. Ich will nicht zu Beginn wissen, was am Ende rauskommt. Ich merke, wann es langsam fertig ist. Es hat dann ein Muster, das in alle Richtungen geht. So muß eine Komposition sein. Das hat etwas von einem Gedicht. Es geht mir nicht um eine Abfolge von A nach Z, sondern um die Rückverweise und Querbezüge. Wenn ich am Morgen das Gefühl hatte, in einer bestimmten Passage nicht richtig drin zu sein, habe ich etwas anderes fortgeschrieben.
Es dauert wirklich - das habe ich auch von anderen Autoren gehört - zwei bis drei Stunden, bis man soweit ist, daß man anfangen kann zu schreiben. Selbst wenn man in einem wochen- oder monatelangen Schreibprozeß drin ist, braucht man jeden Tag wieder seine Zeit, um in diesen Prozeß einsteigen zu können. Ich habe festgestellt, daß Pfefferminztee konzentrationsfördernd ist. Außer Zigaretten nehme ich keine Drogen zu mir. Von Burroughs gibt es das Statement: 'Es gibt keinen Text, der dadurch besser geworden wäre, daß der Autor Drogen nahm.' Das ist auch meine Ansicht.
Wichmann: Das Schreiben erfordert eine Prozedur, die einen anderen Zustand herstellt.
Beyer: Ich brauche eine gewisse Gestimmtheit, um arbeiten zu können. Diese Stimmung auszunutzen ist sicherlich das schwierigste an der Schreibarbeit. Viele Sachen kommen nicht zustande, weil die Stimmung fehlt, wenn ich mich an den Schreibtisch gesetzt habe. Oder umgekehrt. Du sitzt in der Straßenbahn, bist in der richtigen Stimmung, aber kannst nicht schreiben. Wenn ich einen Text verfasse, schreibe ich nicht von Anfang bis Ende. Ich gehe nicht so sehr vom Inhaltlichen aus. Wenn ich versuche, planmäßig zu schreiben, habe ich beim anschließenden Lesen das Gefühl, daß da irgendetwas nicht dran stimmt - ohne daß ich das genau festmachen könnte. Im Schreiben verfällt man einem Rausch, wenn man sich von diesem Rhythmus forttragen läßt.
Oft ist der Rhythmus der Anfang. Mir fällt eine Phrase ein, und ich brauche im Grunde nur noch die Wörter einzusetzen. Das geht dann wie von selbst.
Wichmann: Sitzt Du während des Schreibens still oder springst Du auch auf, um etwas nachzuschlagen oder um ein bestimmte musikalische Passage zu hören?
Beyer: Die Musik läuft. Ich bleibe am Tisch sitzen. Das ist dann die Beziehung zwischen mir und dem Text. Solche Sessions können gut zehn Stunden andauern.
Wichmann: Welche Rolle spielt bei Deinem Schreiben der Computer?
Beyer: Der Computer ist für mich eine bessere Schreibmaschine. Ich würde nicht anders schreiben, wenn ich Zettel und Schreibmaschine benutzen würde. Ich erstelle keine hypertextuellen Formationen mit dem Computer. Allerdings mache ich mir schon Notizen. Hauptsächlich nutze ich die Möglichkeit, Passagen umstellen zu können, ohne sie jedes Mal neu abtippen zu müssen. Zum Teil gehe ich von den Notizen aus, die ich im Computer habe, und überlege mir, wieweit ich damit komme. Ich überlege, wieviel daran gearbeitet werden muß, um eine bestimmte Atmosphäre herzustellen. Ich teste dann aus, wieviel Text ich brauche, um diese Atmosphäre, diesen Raum oder diese Situation herzustellen. Was als Text schließlich dasteht, ist nur ein Bruchteil dessen, was als Material im Entwurfsstadium zur Verfügung stand.

was mir am besten gefällt sind die weißen Rückseiten der beschriebenen Blätter ... die Punkte ... jeweils drei Stück ... ins Papier gedrückt von der Schreibmaschine ... erscheinen auf der Rückseite (Das Menschenfleisch, p. 105)

Wichmann: Wie erstellst Du Notizsammlungen?
Beyer: Ich habe immer ein kleines Heftchen dabei. Da trage ich kurze Notizen ein - O-Ton oder Ein-Wort-Notizen, die Situationen focussieren. Die Schreibmaschine benutze ich für schnelles Ausarbeiten von Ideen. Dann ergeben sich Sammlungen im Computer, die hin- und hergeschoben und in eine Reihenfolge gebracht werden können. Ich benutze viel Material, auch Fremdmaterial. Weniger im Sinne von herausgehobenen Zitaten als im Sinn eines Spiels.
Für das Manuskript, das ich im Januar abgeschlossen hatte, brauchte ich viel historisches Material. Mein Umgang mit dem Material hat sich auch verändert. Das hängt natürlich auch damit zusammen, daß mir hier ein Zeitrahmen gegeben war. Dieser Rahmen konnte auch überschritten werden. Auf der einen Seite ist der Leser im Jahr 1935, und auf der nächsten gibt es einen kleinen Hinweis auf das Jahr 1987. Zum Teil waren das Listen. Es ging mir um einen bestimmten Sprachgestus, der nationalsozialistischen Ordern oder Briefen zu entnehmen ist. Daraus habe ich dann auch zitiert. Meine Verwendungsweise war hier allerdings weniger poetologisch als bei Menschenfleisch.
Einige Äußerungen sind auch umgedreht. Die kommen gar nicht aus dem historischen Rahmen, sondern sind literarischer Natur. Einige Zitate von Eugen Gomringer - dem prominenten Vertreter der Konkreten Poesie - klingen so sehr nach 30er-Jahren, daß ich gar nicht anders konnte, als sie zu verwenden. Da hat man plötzlich so einen Goebbels-Ton im Ohr - und nichts stellt sich quer.
Wichmann: Wie stellen sich genau die Verbindungen zwischen diesem Tonfall und der Konkreten Poesie dar?
Beyer: Konkrete Poesie im strengen Sinne, wie sie sich selbst versteht, ist oft nicht gerade inspirierend. Wenn man selbst schreibt, versucht man immer, aus dem, was man liest, etwas herauszuziehen, das man für die eigene Arbeit weiterverwenden kann. Das finde ich bei Konkreter Poesie recht selten. Bei Ernst Jandl, der die Konkrete Poesie parodiert, indem er ihre eigenen Methoden verwendet, wird es für mich interessant. Das war in den 50er-Jahren, und Jandl wurde von den Konkreten Poeten scharf kritisiert. Es kann nicht der Sinn von Literatur sein, Normen zu erfüllen. Literatur kann nur Abweichung von Normen bedeuten.
Wichmann: Das ganze Programm der Konkreten Poesie bestand darin, Normen zu erfüllen bzw. zu befolgen?
Beyer: Da muß man unterscheiden zwischen visueller, akustischer und schriftlicher Konkreter Poesie. Bei der visuellen und akustischen Variante findet man noch sehr viel mehr Witz und Erprobungen als in der schriftlichen Konkreten Poesie, bei der ich oft das Gefühl habe, daß ein Ziel gesetzt wurde, das erreicht werden soll. Das Ziel wurde theoretisch festgemacht - und anschließend erfüllt der Text das Programm.
Wichmann: Die Position bestand wahrscheinlich darin, von einer Hermetik auszugehen, die keine Ränder oder Überstehendes duldet.
Beyer: Genau das ist der Punkt. Das ist Gomringer. Das ist historisch gesehen sicherlich eine wichtige Position gewesen. Nur darf man seine Ziele auch nicht zu niedrig stecken, sonst hat man sie viel zu schnell erfüllt und weiß den Rest seines Dichterlebens nicht mehr, was man anfangen soll. Manche sind dann von Postulaten abgerückt, haben ihren Arbeitsrahmen erweitert und sehr viel Produktives und Neues erfunden. Eugen Gomringer macht, glaube ich, auch nicht mehr furchtbar viel; die meisten und wichtigsten Texte stammen wohl auch aus den 50ern. Aber sowas bringt mich nicht ans Arbeiten.

Versionen und Editionen

"Text + Kritik" aus München führt eine Reihe, die sich "Frühe Texte der Moderne" nennt, für die ich eine Werkauswahl von Rudolf Blühmler editiert habe. Rudolf Blühmler hat lange Jahre bei der expressionistischen Zeitschrift "Der Sturm" mitgearbeitet. Am bekanntesten ist noch seine Lautdichtung "Angolaina". In den 50er-Jahren wurden die Expressionisten - auch die hammerharten wie Stramm - von der Konkreten Poesie wiederentdeckt.
Ich begleite noch andere Editionen. Meine Freundin, ein Freund und ich haben zusammen einen Gertrude-Stein-Band herausgegeben. Verschiedene Übersetzer und Schriftsteller wurden eingeladen, Übersetzungen der Texte zu machen. Oft ist derselbe Text an verschiedene Leute gegangen, und wir haben die unterschiedlichen Versionen gedruckt.
Zum Teil entstehen die editorischen Arbeiten auch aus meiner Arbeit an der Universität in Siegen, wo ich als Hilfskraft arbeite. Dort betreue ich zwei Schriftenreihen. Die eine heißt "Vergessene Autoren der Moderne", die andere "Experimentelle Texte". Bei den "Vergessenen Autoren" bin ich zusammen mit Karl Riehar, meinem Professor, Herausgeber.
Für den Nautilus-Band "New York Dada" habe ich Texte übersetzt. Auch ein Band von George Grosz ist von mir und Karl Riehar editiert worden. Da hat Karl Riehar mehr getan als ich, bei Blühmler weniger.
Gemeinsam mit Andreas Kramer, der auch am Getrude-Stein-Projekt beteiligt war, ist geplant, einen Materialien-Band zu Burroughs herauszubringen. Das werden unbekannte Texte in Kombination mit Texten zu Burroughs sein. Die Texte zu Burroughs sind Erst-Übersetzungen bzw. neue Texte von Autoren, die wir um einen Beitrag für den Materialien-Band bitten wollen. Wir haben mit Udo Breger, dem Freund und deutschen Übersetzer von Burroughs, Kontakt aufgenommen. Udo Breger hatte in den frühen 70er-Jahren auch einen Verlag, "Expanded Media Editions". Wir haben ihn in Basel, wo er jetzt wohnt, besucht.

Zufall und Geschichte

Wichmann: Was hat Dich bewogen, den Text zur nationalsozialistischen Zeit zu schreiben?
Beyer: Das sind oft so kleine Zufallssachen. Man wird in etwas hineingezogen. Ich hatte begonnen, an einem zweiten Roman zu arbeiten. Nach 80 Seiten merkte ich, daß das nicht das richtige war. Ich hatte eine Einladung nach Klagenfurt, zum Bachmann-Wettbewerb 1991. Ich hatte schon drei Textvorschläge gemacht, aber mit keinem war ich richtig zufrieden. Mein Text sollte für mich so gut sein, daß es mir nichts ausmachen würde, wenn die Jury dort den Text nicht gut bewertete. Eine Woche vor Klagenfurt begann es von neuem, mit einem Text, der völlig anders war. Der Text war etwas völlig Neues für mich. Für den Text gab es einen historischen Rahmen. Es ging um die Situation zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Der Auslöser war eine Zeitungsseite, die ich an der Wand hängen hatte. Die Seite war aus der "Illustrierten Weltkriegszeitung 1914-16" (man ging damals davon aus, daß der Krieg 1916 beendet wäre). Darauf war ein Stich zu sehen, der ein Flugzeug zeigte, das Menschen auf hoher See rettete, und am Horizont versank ein U-Boot. Daraus hat sich dieser Text entwickelt. Das ging einfach so los. Eine Woche vor Klagenfurt. Am Tag vor der Abreise nach Klagenfurt war der Text fertig. Dieser Text war für mich sehr frisch. Und mit diesem Text war eigentlich ein Jahr Arbeit hinfällig.
Zu der Zeit, als ich diesen Text schrieb, wurde gerade für den WDR ein Fernsehfilm zum Thema "junge Literatur" gedreht. Eine Aufnahme dafür wurde im Dresdner Hygiene-Museum gedreht. Sowas interessiert mich sowieso. Wir hatten Zugang zum Keller. Daraus hat sich ein weiterer Text ergeben.

Signaturen: K. und M

Ich hatte bis dahin nie mit Namen gearbeitet. Entweder man denkt sich einen aus oder nimmt einen Schlüsselnamen - das lag mir beides nicht. In diesem zweiten Text brauchte ich aber einen Namen, weil ich in diesem Fall nicht nur mit 'Er' hantieren konnte. Ich fand dann einen kleinen Zettel, auf dem ich in krakeliger Schrift etwas notiert hatte. Ich las da den Namen 'Karnau'. Weil in meinem ersten Roman die Person 'K.' vorkam, fand ich die Idee gut, hier den Namen 'Karnau' einzusetzen. Das klappte auch. Nachdem der Text fertig war, begann ich zu überlegen, weshalb ich diesen Namen überhaupt auf diesem Zettel notiert hatte. Ich stellte fest, daß ich mir Jahre vorher etwas aus der "Kölner Zeitung" rausgeschrieben hatte. Die "Kölner Zeitung" erschien hier in den ersten Nachkriegstagen. Die Ausgabe war vom Mai 1945 (in Köln war der Krieg schon im März beendet, und es gab schon wieder eine Zeitung). Karnau war nach den Angaben dieser Zeitung der erste Zeuge der Alliierten, der sagen konnte, daß Hitler tot ist. Der hatte Hitlers Leiche gesehen. Ich bin dem weiter nachgegangen. In den Registern der historischen Bücher tauchte Karnau allerdings gar nicht auf. Die Angaben, die ich fand, widersprachen sich. Einmal hieß es, Karnau sei Streifenpolizist gewesen, ein anderes Mal daß er Diener von Hitler gewesen sei. Diese Widersprüche interessierten mich. Ich habe das bis heute nicht klären können. So habe ich angefangen, mir dessen Geschichte auszudenken. Was hatte er während des Dritten Reichs gemacht? Und was hat er später gemacht? Diese Recherche habe ich angereichert mit anderen Lebensläufen. Es bildete sich eine zweite Figur heraus: Dr. Stumpfegger. Karnau hatte den in dem Zeitungsartikel erwähnt. Stumpfegger soll die Hündin von Hitler vergiftet haben. Und möglicherweise auch Hitler selbst. Das war nicht klar, da es zu der Zeit keine Informationsverbindung zu Berlin gab. Diese Verwirrung war sicherlich auch durch strategische Überlegungen der Siegermächte verstärkt worden. Die russische Arme hatte ihre Zeugen beiseite geschafft. Karnau, der am 1. Mai aus Berlin rausgekommen war, hatte die Fronten gewechselt; er war auf der Seite der Westalliierten im Grunde der einzige Zeuge für den Tod Hitlers. Stalin, der zunächst melden ließ, daß Hitlers Leiche gefunden worden sei, überlegte es sich dann. Hitler war sein Erzfeind - der durfte doch nicht tot sein! Die Jungs, die für Stalin feststellen sollten, daß Hitler tot sei, sind dann degradiert worden, und schließlich in Sibirien gelandet.

Ein Stapel solcher Briefe liegt am Boden, ist aus dem Schrank gefallen, als ich Kleidung herausziehen wollte. Sie fragt, ob sie mir helfen solle beim Zusammensuchen, Fetzen Papier sind aus dem Textgeflecht gefallen, es gibt da keinen Halt mehr, ich weiß auch nicht, was das für unbekannte Briefe sind. (Das Menschenfleisch, p. 56)

Karnau meinte jedenfalls in diesem Zeitungsartikel, daß Stumpfegger Hitlers Leibarzt gewesen sei. Ich habe dann herausgefunden, daß er in den letzten paar Tagen Hitlers Leibarzt gewesen war. Hauptsächlich ist er der Leibarzt von Himmler gewesen. Nebenher hatte er Menschenversuche im KZ Ravensbrück durchgeführt. So hatte ich mich entschlossen, auch an dieser Figur etwas zu arbeiten. Ich habe Karnau zu einem Kumpel von Stumpfegger gemacht. Stumpfegger war ein Name, der in das Konzept zu passen schien. Andere Namen traten hinzu, die wieder literarisch waren. Ein Morgentod - benannt nach einer Figur aus einem Film Robbe-Grillets. Anfangs hieß er noch "Morgen" (in dem "Projekt für eine Revolution in New York"). Die Leser kannten das Prinzip: immer wenn einer mit "M" auftaucht, ist das die Figur des Bösen, des grausamen Nazi-Arztes, der sich in Frankreich durchschlägt. In dem Film "Die schöne Gefangene" machen zu Beginn ein Mann und seine Frau einen Autounfall. Die Frau ist verletzt, der Mann schleppt sie durch die unwegsame Nacht. Plötzlich sieht er ein Haus, an dessen Tür er "Dr." liest: "Dr. Morgentod". Er ist froh, endlich Hilfe gefunden zu haben. Und das Publikum schreit auf und will ihn warnen.
[Wir werden unterbrochen. Marcel Beyer macht mit einem "Dr. Moreau" weiter.]
Dr. Moreau kommt aus meiner Jugendzeit. Zuerst war es eigentlich nur der Name, der mich faszinierte. Dann hatte ich "Die Insel des Dr. Moreau" gelesen. Was war das für ein Typ? Der lebte auf seiner Insel und bastelte Menschen mit Tieren zusammen. Das fügte sich alles quasi von selbst zusammen. So entschrieb sich da so ein halb faktischer, halb fiktiver Text auf rund 200 Seiten.

Ein Fetzen Haut löst sich ab, fällt zu Boden, oder er bleibt an einer Kante hängen, wo sie sich gestoßen hat, so daß man dieser Schrank sein möchte. André Breton fragt: da Sie von der Beziehung der Haut zu dem Darunter sprechen, glauben Sie nicht, daß es Anlaß gibt, den Kosmetikern zu mißtrauen? (Das Menschenfleisch, p. 12)

Wichmann: Wann wird der Text erscheinen?
Beyer: Ich habe ihn jetzt bei Suhrkamp eingeschickt. Ich hatte auch meinen ersten Roman am liebsten bei Suhrkamp veröffentlichen wollen. Christian Döring betreut da den größten Teil der jungen Autoren. Und Suhrkamp veröffentlicht den größten Teil der jungen Gegenwartsliteratur in Deutschland. Hanser macht jedes Jahr einen neuen jungen Autoren. Michael Kröger sagte das selbst 1988 auf einer Veranstaltung. Suhrkamp macht ca. 20 im Jahr. Christian Döring interessiert sich sehr für Gegenwartsliteratur, und ich kann mit ihm am besten umgehen. Ich hatte das Manuskript natürlich nicht nur an einen Verlag geschickt. Bei den Rückschreiben, die ich von den anderen Verlagen oft bekam, hatte ich den starken Eindruck, daß sie gar nicht begriffen hatten, um was es mir ging. Da war ich geradezu froh über die Absage.
Christian Döring hatte diesen Roman eigentlich schon seit Jahren betreut, in einer Zeit als noch gar nicht daran gedacht wurde, daß ich Suhrkamp-Autor werden sollte. Ich schickte ihm immer wieder die neuste Fassung des Manuskripts von Das Menschenfleisch. Er schickte kurze Antworten zurück, die es immer genau trafen. Wenn er sagte, daß das Manuskript in dieser Fassung nicht genommen werden könne, konnte ich ihm nur zustimmen. Im Grunde hätte ich es so auch nicht haben wollen. So hat sich eine Zusammenarbeit entwickelt, die das Schreiben begleitete.
Wichmann: Wieviele Exemplare von Das Menschenfleisch sind bisher verkauft worden?
Beyer: Es werden immer weniger verkauft. Bis jetzt sind 1.300 Exemplare verkauft worden. Im ersten Vierteljahr waren es gut 1.000. Im März ist es erschienen, im Juni kam die Abrechnung. Ich dachte schon an eine zweite Auflage, die bei 2.000 verkauften Exemplaren fällig gewesen wäre. Die Kurve, die den Verkauf darzustellen hätte, beschreibt einen rapiden Sturz. Aber das war klar.