Hinrich Sachs

Träume tauschen

Grosse Verwunderung bei mir als ich bemerke, dass ich einen Anflug von Neid entwickelt habe. Und zwar auf eine Frau, die 1. nicht mehr lebt, und 2. viel geträumt hat, ich meine - traumwandlerisch gearbeitet hat! Diese nicht unbekannt gebliebene Frau hat ihre Arbeit tatsächlich ein Leben lang geträumt. Schnitt.

Eigentlich bin ich an Interviews interessiert. Im Konkreten daran, wie Leute sich in Interviews geben, darstellen, inszenieren. Zum Beispiel neulich in einer Freitagsabend Talkshow. Da sitzt eine der üblichen Talkrunden zusammen: aus Politik, Unterhaltungsbranche und Wirtschaft. Letztere inszeniert sich verkörpert von einer feschen und redegewandten Virginie Taittinger ins beste Licht. Roberto Blanco ergreift die gute Gelegenheit und möchte ihr einen BH aus der mitgebrachten Unterwäschekollektion eines anderen Showgastes anlegen und tut es. Alle amüsieren sich, sogar Virginie lächelt tapfer ins Mikrofon: für Champagner tue ich (fast) alles. Die ältere Dame unter den Talkgästen - Soziologin aus dem konservativen Lager - hält sich vornehm zurück. Die beiden Talkmaster des Senders strahlen zum spritzigen Gespräch.
Warum das alles ausbreiten? Weil ich jemanden bisher ausgespart habe, der dem Abend eine besondere Note geben sollte. Er ist Schauspieler und hatte gerade im Fernsehfilm über den deutschen Herbst 1977 den Terroristen Peter Jürgen Boock gespielt. In der Talkshow gefiel er sich in der Rolle des enfant terrible und hatte diese mit rüden Verbalattacken gegen die schon erwähnten anderen Gesprächspartner aufs Beste ausgefüllt. Das ging solange gut, wie seine Worte als Selbstinszenierung wahrgenommen wurden. Doch dann insistierte der Mann darauf, dass die politische Dimension der angesprochenen Inhalte, Staatsräson und RAF-Utopie, in unsere aktuelle bundesrepublikanische Gegenwart hineinreichen und forderte die Gesprächsteilnehmer öffentlich zur Stellungnahme auf (oder heraus?!)

Und nun ist es das Gesicht der Talkmasterin - in Naheinstellung - welches mir sprechend in Erinnerung blieb: leicht entgeistert, irritierter Seitenblick zum zweiten Moderator. Erst sprachlich ausweichend, dann ziemlich abkanzelnd und kommentarlos den Gesprächspartner wechselnd. Als sie ahnt oder realisiert, dass der Interviewte eine Grundspielregel nicht einhält, kehrt sie zum vorher durchgespielten Verlauf zurück. Im Kontext dieser Unterhaltung haben alle zum munteren Hin und Herspringen des kommunikativen Balles beizutragen. Der, der diese Regel nicht einhält, wird "zur Strafe" aus dem Gespräch ausgebootet. Schnitt.

Das was mich an Interviews interessiert, ist genau solch ein Moment. Da, wo in einer sozial und kommunikativ codierten Situation wie dem öffentlichen oder veröffentlichten Sprechen etwas passiert, ein Fehler, ein Stottern oder Schweigen, ein absichtliche Störung, Ironie und Provokation, da scheint etwas mehr von demjenigen auf, was uns unter gewöhnlichen Bedingungen verborgen bleibt. Beide Sprechenden, der Interviewte, oder wie in unserem Beispiel der Interviewer, können die Gesprächskontrolle verlieren. Dann wird die Lücke, die Störung der kommunikativen Codierung selbst sichtbar.
Für einen kurzen Moment blitzt es auf, das Kommunikation Regeln folgt, Machteinschätzungen und Tauschverhalten, die analog zu ökonomischer Dynamik daran orientiert sind, Gewinne zu machen. Und Sprechen sich als alles andere als natürlich erweist. Hubert Fichte meint sogar:

Wir sind die Sieger. Wissen ist Macht. Das Weltbild der Physik ist das Weltbild siegreicher Physiker. Der Ethnologe geht siegreich aus der Strukturenanalyse des Indianerstammes hervor. Reportagen sind Trophäen aus Hunger. Der Maler siegt über Materialien und Gesichter. (Nur Cézanne verzichtete zuletzt auf Siege und liess weisse Flecken als Niederlagen auf der Leinwand zurück.)

Gleichzeitig greift der Interviewte an. Die harmonisierende Schicht wortlos vereinbarter Gesprächsverläufe wird beiseite gedrängt. Der Patient in der Gesprächstherapie könnte Dinge zur Sprache bringen, gewinnt Kontrolle über sich und inszeniert sich neu:

Bekomme viele Briefe. Unter anderem drei feuerrote Umschläge und ein Telegramm von A. Letzteres in sehr kleinem Format, wie Puppenpost.
(In Wirklichkeit warte ich dringend auf Antwort. Die Briefumschläge waren vom gleichen Rot wie der Umschlag des Buches, das mir A. schenkte. Meine Auslegung: Drei rote Briefe - Drei Tage - hat sich bestätigt. Nach drei Tagen telephoniert er.)
[war eine kleine Liebesgeschichte]. (1954)

"Man muss das Wasser führen wie ein Tier: gegen sein Schreien".
Ein eher lichter, niedriger Wald, viel Unterholz. (...)Ich lehne über etwas bröcklige, rötliche Felsen, neben mir sind Leute, so etwas wie Naturforscher. Unten an den Felsen, in einer Tiefe von etwa 100 m, sieht man Tiere, einen (zwei) Elephanten, eine Art kl. Rhinozerösser, Nilpferde, kleinere Tiere, zum Teil wie aus heller, rötlich-weisser Erde, aber sie bewegen sich.
Halte im Arm ein Lämmchen. Ganz mager, total unterernährt. Man müsste ihm Milch mit der Pipette geben, nicht mit der Flasche.
Es kann nicht stehen. Der Traum geht weiter, weiss nicht mehr genau. Das Lämmchen, immer noch sehr klein, steht im Gras, vor ihm eine frisch gegrabene Vertiefung in der Erde. Es winden sich dicke Regenwürmer darin, welche das Lämmchen gierig auffrisst. (1985)

In Erinnerung bleibt das Gesicht der Talkmasterin: leicht entgeisterter, irritierter Seitenblick, zunächst ausweichend, dann ziemlich abrupt und kommentarlos den Gesprächspartner wechselnd. Wenn man ahnt oder realisiert, daß einer der Sprechenden eine Grundspielregel nicht einhält, kehrt die Allgemeinheit zum planbaren Verlauf zurück. Der, der die Regel nicht einhält, wird "zur Strafe" aus dem Gespräch ausgebootet. Die Frage lautet: Wer bestimmt die Regeln des öffentlichen und veröffentlichten Sprechens? Jene beneidenswerte Frau, die sehr jung, vielleicht aufgrund der Veröffentlichung eines Fotos von ihr sehr bekannt geworden war, gelang es schliesslich, über viele Jahre durch die Klippen des öffentlichen Sprechens zu segeln.

Bin in einem gotischen Dom. Stehe vor einer hohen geschnitzten Holzstatue eines Heiligen [ohne Farben und ganz wurmzerfressen].
Er hält eine Sanduhr in der Hand. Während ich ihn ansehe dreht er die Sanduhr um. (1949)
(Der Traum war kurz vor od. nach meinem 36. Geburtstag. Hälfte des Lebens?)

Statt theoretischer, literarischer oder anekdotischer Selbstzeugnisse eine Sammlung von Träumen zu publizieren, ist eine von Meret Oppenheims wesentlichen künstlerischen Entscheidungen. Ihre "Aufzeichnungen 1928 - 1985" (erschienen in Bern/Berlin 1986) sind sprechend und sprechen so, daß die Talkmasterin ausweichen muss. Und wir mit. Einerseits wirft alle Kunstlosigkeit, die schonungslose Veröffentlichung privatester Träume uns in jene Ecke der kommunikativen Codes, in der wir zunächst nichts dazu zu sagen haben. Dann wieder erscheinen Meret Oppenheims offenen Geheimnisse, ihre Worte als raffiniertes, kenntnisreiches Sprechen in öffentlichem Feld, indem sie alles um die Träume herum Ausgelassene mitreden lässt. Also die Bezüglichkeit von Lebbarem und Geträumten in den Bereich der Aufmerksamkeit zieht. Zu einem ganz bestimmten Preis: diese Träume erst nach ihrem Tod zu veröffentlichen. Schnitt.

Es sei denn, ich habe Gründe. Schreiben statt Sprechen wäre so ein Fall. Ich erinnere mich an eine Stelle in dem Buch, was Jan Phillip Reemtsma einige Zeit nach seiner überlebten Gefangenschaft durch Entführer veröffentlicht hat. Warten konnte und wollte er nicht darauf, das seine Worte ihn erst posthum entlasten:

Warum (...) noch einmal das Gesicht zeigen, diesmal in Worten, diesmal freiwillig? Eben weil es bereits in der Öffentlichkeit ist, weil meine Geschichte schon überall kursiert, weil sie schon wenige Stunden nach meiner Freilassung öffentlicher Besitz geworden ist, so dass ich sie mir nicht nur für mich selbst, (...) sondern auch in der Öffentlichkeit wieder aneignen will. (...) Es gibt für das eigene Leben kein Copyright, aber es ist leichter, sich mit allerlei missbräuchlichen Aneignungen abzufinden, wenn es irgendwo einen Text gibt, auf den man zeigen kann.

"Im Keller" liest sich parallel zum entführt und medial Gelebten, und Reemtsma musste sich wieder Distanz zum Öffentlichen erschreiben, Distanz oder Kontrolle oder Schutz vor dem codierten Zwang zur Kommunikation. Wie Meret Oppenheim den irreversiblen Standpunkt wählt: nach dem Tode. Schnitt.

Ob Regelhaftigkeit öffentlicher Kommunikation einen Schauspieler in der Talkshow kaltstellt oder einen steinreichen Sozialwissenschaftler im medialen Licht auszieht, kommunikativer Tausch gehorcht dem Gewinne-machen des Allgemeinen. Und nur dann, wenn der codierte Tausch einbricht, abbricht
entstehen die persönlichsten, besten Momente. Ist geträumtes Sprechen immun gegen eine allgemeine Entwertung?

Grosse Gitterkäfige, im obersten Abteil ein schönes Kaninchen, weiss-braun? Schon zwei- oder dreimal habe ich die Käfige nach vorn oder hinten umgekippt, um irgendetwas zu ändern, oder weiss-ich-was. Immer wieder hatte ich das Kaninchen oben vergessen. Dann habe ich auch drei andere im Arm, die mir ständig zu entwischen versuchen. Ein grosses weisses springt fort und beisst eins von zwei kleinen, weissen Meerschweinchen tot, oder fast, die plötzlich auch im Käfig, mittlere Abteile, sitzen. Dann sind alle Kaninchen entwischt.
Deutung: Achtung, Sorgfalt, kein Durcheinander machen, bezieht sich auf Arbeit, glaube ich. Warten, bis das "Neue" von selbst kommt.

1997

grafics sampled from Fleche