B-dolf
Immer wenn mich die ewig gleichen dummen Fressen in den immer ewig gleichen dämlichen Szenelokalen ankotzen, beweg ich mich in Richtung Hafen, den depperten Pennern, die den erdrückenden Teil des beschissenen Underground - womit nicht gesagt sein soll, ganz, ganz gewiß nicht, daß es irgendwo etwas Besseres gäbe, nein - bilden, ist es meist ein weltallgroßes Rätsel, daß es hier, ja hier in Köln, einen Hafen gibt, ankern hier auch nicht Schlachtschiffe und Ozeanriesen, so doch wenigstens ein paar Rheinkähne, besser als nichts. Besser ein kleines bißchen Ferne, als immer nur die Mauern der Altstadt. Besser ein paar proletige, besoffene Rheinschiffe, als blasierte Medienhengste und Werbeagenturstuten.
Es war mal wieder so ein Abend. Es war noch früh. Mir ging es zum Kotzen. Probleme. Mit Geld. Und was es alles soll. Und so weiter, immer die gleiche Leier. Klar, heute war nichts mit Pop, Punk, Szene und unglaublich hübschen und waaaaahnsinnig intelligenten Menschen. Ich landete, wie eigentlich immer, wenn mich die Tristesse anfiel wie ein rachitischer Königstiger in Frühpension, der drei Wochen nicht zu Fressen abgekriegt hat, im 'Nebelhorn', eine kleine rauchige, vertrauenserweckend heruntergekommene Kaschemme im Hafenviertel. Ich arbeitete mich schläfrig, aber konzentriert, durch eine ansehnliche Versammlung gut gezapfter Biere. Der Abend schritt selbsttätig fort. Gestalten kamen und gingen, es gab einige Gesprächsanbahnungsversuche, aus denen ich aber gekonnt die Luft herausließ. Ich brummte. Mit eisernem Willen gelang es mir, Biere zu verzehren und dadurch gefährliche Attacken von Selbstmitleid in vernünftige Bahnen zu lenken.
Später.
Ich war eine Weile ganz in Gedanken versunken gewesen. Ein Schluchzen am Nebentisch schreckte mich aus meinen trübfischigen Überlegungen. Ich sah auf. Ein junges, sehr rothaariges Mädchen, gesprenkelt mit äußerst aparten Sommersprossen, weinte in sich hinein. Sie begann verkrampft in ihren Taschen zu wühlen, offensichtlich auf der Suche nach einem Taschentuch. Eine kleine galante Geste schien mir im Augenblick sehr geeignet, mich aus den mäandernden Verschlingungen meiner Gedanken davonzustehlen. Ich ruckte auf, ungeschickt, fingerte in den Taschen meiner Lederjacke nach einer verknitterten, aber jungfräulichen Ansammlung Tempotaschentücher und setzte mich zu ihr an den Tisch. "Wenn es Dich nicht stört...." sagte ich und hielt ihr das strahlende Weiß unter die Nase. Sie sah kurz auf und nickte dankbar. Sie rieb unter Augen und Nase. Ich hatte Zeit, wegen mir mußte sie nichts sagen. Ein neuer Schwall Tränen brach los. Ich zog Tempo blank. "Iiiichhhh daaarf nit singään...." greinte sie. Schluchzen. Um nicht ganz hilflos dazustehen, ergriff ich ihren Arm und drückte ihn. "Na, wasn los?" fragte ich, sie schüttelte erst abwehrend den Kopf, mir schien, nach einer eingehenden Musterung wirkte ich aber doch vertrauenerweckend genug.
Sie schniefte, wischte sich die Augenwinkel frei und berichtete in mehr oder weniger zusammenhängender Form, immer wieder von kleinen Schluchzerattacken unterbrochen, sie sei ein Mitglied der Kelly-Familie, da sie sich den Annäherungen ihres Vaters widersetzt habe, sei es ihr verboten, trotz ihrer glockenklaren und wunderschönen Stimme, im Familienchor mitzusingen. Daß ich hier auf offenbare Prominenz gestoßen war, wunderte mich nicht. In der Medienstadt Köln ist immer wieder mit so etwas zu rechnen. Rettet man einen besinnungslosen Zecher aus dem Rinnstein, schon ist es Harald Juhnke, passiert dauernd. Ich meinte - meine einzige Berührung mit diesem krachmachenden Clan war bisher das flüchtige Streifen meines Blickes über die einschlägigen Konzertplakate gewesen - eine gewisse Familienähnlichkeit zu erkennen, so vage meine Vorstellungen auch waren, jedoch war mein Gegenüber eindeutig attraktiver als die leicht unterentwickelt wirkenden Physiognomien auf den Plakaten.
Ich atmete erstmal tief durch. Ich hielt weiter ihren Arm. Ich fing an, ein bißchen von mir zu erzählen. Um sie abzulenken von ihrem Kummer, kann es sein, daß ich etwas ins Aufschneiden gekommen bin, vielleicht, daß ich mich und meine Aktivitäten etwas günstiger darstellte, als es in dieser bösen Welt genaugenommen der Fall sein mochte. Die Schluchzer wurden weniger, irgendwann hörten sie ganz auf. Sie hörte mir intensiv zu, ab und an stellte sie mir kurze Zwischenfragen. Ihre Augen suchten meine. Auch als sie sich längst beruhigt hatte, entzog sie sich nicht meiner Hand auf ihrem Arm. Die Biermaschine funktionierte prächtig, als hätte jemand ein neofordistisches Fließband installiert, kamen die kleinen Gläser an den Tisch gerollt. Das tat gut. Hatte mir zwar an Köln nie gepaßt, seitdem es mich an diese Küste verschlagen hatte, der Kult der zu kleinen Biergläser und des nicht eben sehr schmackhaften Gebräus, aber der Mensch gewöhnt sich ja an alles.
Offensichtlich taten die Biere auch ihrem Wohlbefinden sehr gut. Ab und zu begann sie zu lächeln, mit der Zeit strahlte sie mich regelrecht an. Ich blieb neugierig. Wir führten eine lebhafte Unterhaltung, immer wieder musterte sie mich verstohlen. Unsere Laune stieg. Kurz vor der Sperrstunde lachte sie schelmisch, beugte sich vor und gab mir einen Kuß auf den Mund. Einen Augenblick verharrten unsere Lippen aufeinander. Sie blickte mich auffordernd an. "Komm mit!" meinte sie zu mir, wobei sie den Kopf gestisch nach hinten-seitlich warf. Wir schmissen unser Geld zusammen und regelten die nicht unbeträchtliche Zeche.
Wir traten aus dem verräucherten Lokal. Die Nachtluft tat gut. Eine kurze Strecke gingen wir auf der Hafenstraße, immer wieder blieben wir stehen, umarmten uns und preßten unsere Körper aneinander. Vor einem Lagergelände trat sie neben die Straße, griff mich am Arm und führte mich vor einen Zaun. Mit einer Handbewegung hob sie den Maschendraht des Zaunes an und hieß mich durchschlüpfen. Sie folgte. Zielstrebig durchquerten wir das Gelände, schlugen uns durch ein Gebüsch, folgten verlassenen, fast zugewucherten Wegen, überkletterten Müll, übersprangen Gräben. Schließlich standen wir am Rand eines größeren, mit Sattelschleppern zugeparkten Platzes. "Psch! - Keinen Mucks mehr, die Wächter...." flüsterte sie mir zu. Sie lotste uns im Schatten der Sattelschlepper, immer langsam von einem zum anderen, in der Ferne waren Schritte zu vernehmen, aber sie kamen nicht näher. Ich registrierte, daß wir uns auf eine Kaimauer zubewegten. Das letzte Stück mußten wir mangels Sichtschutz robben. Zielstrebig robbte, kroch sie auf eine Stelle zu, an der ein Ruderboot an der Kaimauer vertäut lag. Mühsam arbeiteten wir uns über die Kante, hangelten uns an einer rostigen, schmierigen Eisenleiter nach unten. Sie zog das Boot heran, stieg ein und hielt es ruhig, bis ich auch an Bord war. Sie stieß es ab. Es glitt weiter auf das brackige Wasser. Der Hafen stank nach Öl und Moder. Als vielleicht zwanzig Meter zwischen uns und dem Ufer lagen, begann sie sehr leise und vorsichtig zu rudern. Im Dunkel konnte ich die Silhouette mehrerer größerer Hausboote erkennen, die im Hafenbecken vor Anker lagen. Nach einer starken Viertelstunde ließ sie das Ruderboot sacht an eines der Schiffe hingleiten. Sie hielt einen Finger vor den Mund und sah mich durchdringend-beschwörend an. Über eine Strickleiter gelangten wir an Deck. Ich hörte polternde Schritte. Sie zog mich in den Schatten eines Kajütenganges. Ein älterer Mann humpelte, eine Whiskyflasche in der Hand, über das Deck.
Er gröhlte Seemannslieder.
Einen Moment stellte er sich an die Reeling und schaute über das Hafenbecken. Wir hörten es platschen. Ein derber Fluch. Ich meinte irischen Akzent dabei wahrnehmen zu können. Anscheinend war die Flasche seinen Händen entglitten und über Bord gegangen. Notgedrungenermaßen mußte er seine Betrachtungen abbrechen und sich eine neue Flasche besorgen gehen. Fluchend und grölend verschwand er Richtung Heck. Die junge Dame - fiel ein, daß ich bis jetzt immer noch nur ihren Familiennamen kannte - zog mich rasch in den Kajütenabgang. Unten folgten wir einem engen, schmalen Gang, sie huschte, mich hinter ihr herziehend, in eine Kajüte. Sie kramte auf einem kleinen Tisch und entzündete eine Kerze. Ich sah mich um. In eine Wand war eine Koje eingelassen, sonst gab es neben einem Wandschrank kein Mobiliar. An den Wänden waren überall Pferdebilder und ein altes Poster von Elvis Presley. Sie zog mich an sich. Unsere Zungen verschlangen sich gierig umeinander. Ich spürte ihr wild pochendes Herz. Umarmenderweise bugsierte sie mich in die Koje. Fast hektisch rissen wir uns die Kleider vom Leib. Ich war im Himmel.
Jäh kam die Wirklichkeit zurück. Die Kajütentür flog krachend auf. Der Betrunkene vom Oberdeck polterte herein. "Vater!" schrie meine neue Bekannte. Aufgerissenen Auges realisierte er meine Anwesenheit. Er versuchte, mit der immer noch umklammerten Whiskyflasche auf meinen Schädel einzuschlagen. Er war jedoch schon zu unkoordiniert, er fuchtelte, traf aber nur ins Leere. Ich sprang auf, duckte mich unter ihm weg, er war zu langsam. Ich packte ihn von hinten, er riß sich herum, die Flasche flog krachend an eine Kabinenwand, wo sie zerbarst. Er packte mich am Hals. Ich schnappte nach Luft, mit einem Ruck bekam ich mich frei. Ich machte einen Satz zurück, holte Schwung und rammte ihm meinen Stiefel in den Bauch. Er gab einen gurgelnden Laut von sich und sackte zusammen. Die junge Frau lag zusammengekauert in der Koje und schluchzte. Ich bekam eine Wut. Mir war klar, was der Besuch des alten Suffkopfs zu bedeuten hatte. Die Geschichte hatte mich eingeholt. Mein Beschützerinstinkt war längst erwacht. Haßerfüllt packte ich den Alten. Zum Glück bin ich nicht ganz unkräftig, er war zwar aufgequollen, aber schmächtig. Mehr zerrend als tragend wuchtete ich ihn auf den Flur. Die Treppe zum Deck war eine Prüfung, aber ich meisterte sie. Schließlich hatte ich ihn auf Deck. Es wurde schon langsam Morgen, aber noch war es dunkel. Ich überlegte angestrengt. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Ein Betrunkener, der über Deck torkelt....und die Reeling war nicht sehr hoch.... Ich nahm ihn roh wieder auf, zerrte ihn an die Reeling. Stückweise schob ich ihn höher, bis mir die Schwerkraft seewärts die Arbeit abzunehmen begann. Instinktiv versuchte er sich am Stahlseil der Reeling festzuklammern. Ich beugte mich nach vorn und biß ihm brutal in die Hände. Er ließ los. Er fiel. Das Wasser klatschte. Ich spuckte ihm hinterher. Ich sah, wie er versank. In einer brodelnden Aufwallung blanken Hasses schlug ich mein Wasser an der Reeling stehend ab und schickte es ihm hinterher.
Die Blasen hörten bald auf.