Alexandra Filipp

Love Parade 94

Mein Beweggrund nach Berlin zur Loveparade zu fahren war, ein gesellschaftliches Ereignis zu beobachten und um meinen Eindruck von der z. Zt. größten Jugendbewegung, der Techno/House-Szene, abzurunden.
Ich bin 30, zum Glück weiß ich über meine Interessen und Lebensziele Bescheid, habe die Punkbewegung miterlebt, verfüge über ausreichende Drogenerfahrung (bis heute), und finde die Techno/House Musik absolut faszinierend, und auch beängstigend (warum später). Dennoch ist mir die aktuelle Clubszene mit ihren Egoismen und der Unfähigkeit, ohne harte Drogen und Sex übers Wochenende zu kommen, weitgehend fremd geblieben.
Ich weiß, daß die meisten, obwohl sie Beruf und Schule nachgehen, ihr Leben als langweilig und leer empfinden und wie viele andere Menschen heute, Extremsituationen suchen. Man durchlebt mehr oder weniger stumpf die Woche, um dann von Freitag bis Sonntagabend (im Grunde eine ziemlich spießige Zeiteinteilung) auf Pille einen draufzumachen.
Ein Mechanismus, von den Medien Musik, TV und Mode gesteuert, hat gewirkt, voll eingeschlagen, wie man in Berlin gesehen hat, und auch die Drogenindustrie hat eine neue breite Käuferschaft erworben. Die Massenekstase ist möglich. Es war ein, zugegeben mitreißender, Werbefeldzug für Musik, Kleidung, Clubs und Genußmittel. Eine bunte Schafherde (ca. 30.000) trabte hinter dröhnenden Boxen her. Die Medienindustrie hat sich weltweit eine gelangweilte, zahlungswillige, relativ kritiklose und unreflektierte Jugend herangezogen, in der jeder glaubt, er wäre ein Individuum, dabei ist er nur ein Teilchen der perfekten Technomaschine, was in Berlin bestens zu beobachten war. Aus einer, im Ansatz, musikalischen Gegenbewegung wurde wieder einmal eine modische Massenbewegung, die heute schichtenübergreifend wirkt und scheinheilig (oder naiv) Liebe für alle propagiert. Sicher war die Loveparade unwahrscheinlich friedlich, trotz dieser Massen, aber nur deshalb, weil sich jeder nur für sich selbst und seinen ganz persönlichen Spaß interessiert. Man läuft und tanzt mit der Menge, außer der Musik ist nichts zu hören und du begegnest tausenden von Augenpaaren für Sekundenbruchteile. Keine Zeit für Kommunikation, keine Zeit für Konfrontation, zudem auch Angst vor den vielen fremden Augen, ich bin einfach nur hinter den Bässen her.
Die klangen mir auch noch in den Ohren, als nach dreieinhalb Stunden in glühender Hitze die Generatoren abgeschaltet wurden, und ich war total scharf drauf auf die nächste Party zu gehen, um weiter zu hippeln. Diese Gier nach den Herzrhythmen macht mir genauso Angst wie alle Anzeichen für Suchtformen. Das fiebrige, sehnsüchtige Erwarten des ersten Baßschlages, der die Menge lostoben läßt und das Losrennen, sobald nur von Ferne Bässe zu hören sind, um sich dann nicht mehr trennen zu können, bevor der Erschöpfungszustand eingetreten ist. Es funktioniert tatsächlich und keiner kann sich, vor oder neben den Boxen stehend, dem Rausch entziehen. Dieses Phänomen wirkt in unserer Vernunftsgesellschaft unheimlich und beängstigend, denn mein Körper wird nicht mehr durch den Verstand, sondern durch Musik, DJ und Droge gesteuert.
Nachts haben wir uns dann auf der sehr angenehmen Party im ŒFreudenhouse¹ weitersteuern lassen, bis bei Sonnenaufgang, nach 12 Stunden Dröhnung, die Ernüchterung kam und wir uns fragten, was diese ganzen, ständig, jedes Wochenende aufgedrehten Leute eigentlich sonst machen und kamen zu dem Ergebnis, daß sie eigentlich alle, ganz im Gegenteil zu dem was sie tun, viel Ruhe bräuchten. Aber weil diese in unserer Gesellschaft nicht erwünscht ist und gefördert wird, stürzen sie sich in diese unproduktive Hyperaktivität. Der geforderten Überaktivität in unserer Maschinenwelt tagsüber, wird die freiwillige Überaktivität nachts entgegengesetzt. Daß das ohne Aufputschmittel schlecht geht, kann man sich ja ausrechnen. Die Leute sind die Sklaven ihres vorgeblichen Fun¹s. Pille hochzukommen, Joint, um runterzukommen. Ein Spaß, der ohne Geld und Drogen nicht machbar ist. Eigentlich nur eine Variation des uns alle ergriffenen Konsumrausches. 1000 offizielle Pillen besuchten alleine aus HH die Loveparade, überhöhte Eintrittspreise werden klaglos bezahlt, Camel veranstaltet nun eine sog. ³Airave², 72 Std. in 4 Städten abtanzen, Schlaf ist nicht eingeplant, alles für nur 499 DM. Ob da die Pillen, um das durchzustehen, im Preis inkl. sind, weiß ich nicht, aber wie langweilig muß es einem sein, um sich so einspannen zu lassen? Höher - weiter - schneller. Wäre auch interessant zu erfahren, wieviele Drogen die Leute auf den Wägen intus hatten, welche die Hitze, die Boxen am Ohr und die Verpflichtung ertragen mußten, Stimmung zu machen. Ich weiß, daß das alles auf Pille kein Muß ist und wirklich Spaß macht, aber eben nur auf Pille.
Ansonsten waren die Meinungen über die Loveparade geteilt. Die alten Hasen waren eben kein elitäres Grüppchen mehr, nicht mehr die Insider, die sich noch alle untereinander kannten, worüber sie sich sehr enttäuscht zeigten, alles als zu prollig beschimpften und über angebliche Ängste diesen Massen gegenüber klagten. Ich persönlich fand diese Unmengen an friedlichen, gutaussehenden, bunten, wilden Leuten als sehr aufregend und sie waren auf alle Fälle die Reise und den Schweiß wert, obwohl ich schwere Bedenken habe, angesichts dieser Menge Gleichgeschalteter, deren Ausdruck die Realitätsflucht ist.
Mich zieht die Szene an und sie stößt mich gleichzeitig über die Maßen ab, in ihrer absoluten Hemmungslosigkeit und Ignoranz. Zu jeder Zeit war es für die Jugend wichtig, sich in Exzesse zu stürzen, Grenzen auszutesten. Aber die Grenzen sind inzwischen extrem weit und selten war das Treiben so phantasielos, mechanisch-gefühllos und abgestumpft. Das übersteigerte Treiben der Jugendbewegungen als Gesellschaftsspiegel. Und alle erscheinen sie, wenn der Rausch vorbei ist, so alleine, leer und ohne Aussichten. Was ich wirklich zum Kotzen finde, ist, daß die Technokratie auch noch FriedeFreudeEierkuchen spieIt.
Im Gegensatz zu den HipHop Leuten, die sich konkret sprachlich, auch politisch, in Gesang und Schrift, ausdrückt, sind die Technoleutchen zu keiner Kommunikation, außer der sexuellen, fähig und willig. Da ist in der Disco jeder alleine, und wenn er rausgeht erst recht. Der Club als anonymer Sportsaal. Und wie unsere schwache Marusha im Fernsehen so schön sagte: Jugend trainiert für Techno.
Techno kapituliert vor der Realität. Abschaltung des Individuums, abtauchen in Trance. Das ist auch eine der Paradoxien: Zum einen eine Egoistenbewegung, zum anderen das Verschmelzen mit der Menge, mit der Musik. Fliehen - abschalten - nichts verändern - konsumieren. Wenigstens in diesen Stunden bin ich weg von der Langeweile und Einsamkeit da draußen. Nichts mehr interessant zu finden, das ist ihr Schicksal. Hoffnungslos übersättigt.
Der Körper wird zum Objekt, der Tanzstrapazen auszuhalten hat und sexuell begehrlich erscheinen soll. Der Kopf bewegt dann diesen Prachtkörper auf Droge durch die Nächte. Auch ich möchte gut aussehen und ohne Pille ist die ganze Nacht wirklich nicht zu ertragen, deswegen ist es auch keine Alternative für mich, diesem Konsumterror zu erliegen, ich suche meine Interessen woanders. Aber wahrscheinlich bin ich doch schon zu alt, um jenes Handeln nachzuvollziehen.
Inzwischen habe ich begriffen, daß niemand mehr an Idealen oder Idolen interessiert ist, daß wir in einer Technikwelt leben, in der der Mensch der noch einzige Störfaktor ist. Eine Welt, in der viele Menschen ein besseres Verhältnis zu ihren Dienstmaschinen (Auto, Computer) haben als zu den sie umgebenden Menschen. Die Selbstverwirklichung findet in einer Konsum/Erlebniswelt statt. Es existiert heute ein Erlebniszwang, der sich in extrem abgegrenzten Erlebnisfacetten darstellt. Jeder, der sich in einer dieser Facetten befindet, steigert sich in seine Welt hinein, findet darin angeblichen Schutz und Erfüllung, und ignoriert zugleich die angrenzenden Erlebniswelten. Jeder glaubt, er wäre optimal und einzigartig, dabei sind alle ferngesteuert. Was als Tolerierung anderer aussehen mag, ist die bewußte Ignoranz aus Selbstüberschätzung, Größenwahn und Egoismus. Vielleicht auch ängstlicher Selbstschutz der überforderten Geisteszwerge, die allen Reizen ausgesetzt, nicht aussondern können und sich hilflos dem Marktterror ausgeliefert fühlen.
Die aus einem Überangebot an Möglichkeiten entstandene Übersättigung, die daraus resultierende Langeweile und Aussichtslosigkeit ruft ein Aufputschen, eine Erregung durch Extremsituationen hervor, das geht durch alle Schichten, durch alle Interessensgebiete. Nachdem die existenzielle Bedrohungen durch Hunger und Tod ausgeschaltet sind, fühlen sich viele Menschen auf westlichem Standard unterfordert und wollen ihre körperlichen Grenzen austesten. Das betrifft heute nicht mehr nur die Jugend. Es ist ein Phänomen unserer vollgefressenen westlichen Welt.
Die Kinder haben die Konsumgeilheit ihrer Eltern übernommen und in neue Dimensionen getrieben. Das schockt niemanden mehr, jeder ist einsamer und unglücklicher als je zuvor und wird am Ende auch so verrecken, wenn ihr euch nicht vorseht. Techno ist keine Welt, keine Möglichkeit zu entkommen, sondern eine von vielen netten Angeboten, mit denen man seine Lebenszeit verschönern kann. Fanatismus und Engstirnigkeit sind einfach Scheiße!



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