Seminar mit Judith Butler

an der Hamburger Universität,
Fachbereich Soziale Forschung
(Sommer 1993)

Ich dachte damit zu beginnen, daß ich erzähle, wie "Gender Trouble" aufgenommen wurde. Ich habe einige Freunde dadurch verloren, auf beiden Seiten... Die Philosophen sagten, es sei nicht tiefgründig genug, nicht wesentlich. Meine Freunde in der Frauenbewegung sagten, daß das keinen Sinn hätte, was ich da tue, weil es zu absonderlich sei. Aber ich fand, daß es Sachen gab, die aus den Erfahrungen der Splittergruppen der Frauenbewegung (Kriege oder Zerwürfnisse) hervorgegangen sind, von denen ich dachte, daß sie artikuliert werden sollten unter Zuhilfenahme radikaler Texte, wie ich sie hier benutzt habe. Und vor allem habe ich in der Frauenbewegung der achtziger Jahre immer wieder die Erfahrung gemacht, daß es dort, wo das feministische "wir" aufgestellt wurde, immer einige Leute gab, die ihre Hand hoch hielten und sagten: 'Entschuldige, aber ich bin kein Teil deines "wir" und ich kann mich nicht erkennen in dem "wir", das du zur universellen Kategorie erklärst.' Dann hörte ich sehr oft Feministinnen sagen: 'Oh, schau nur, die Lesben ruinieren die Bewegung' - weil sie behaupten, nicht durch das feministische "wir" repräsentiert zu werden. Oder die schwarzen Frauen ruinieren die Bewegung, weil sie behaupten, nicht durch das feministische "wir" repräsentiert zu werden - wie können wir dann noch solidarisch sein, wenn wir dem Glauben an das durchgängige und universale feministische Subjekt abschwören? Diese Klagen, die von kulturellen Minderheiten innerhalb des Feminismus kamen, wurden oft abgetan als Spaltungsversuche oder als zerstörerisches Sektierertum. Aber ich dachte, daß das Ideal der immer währenden und überall gleich gültigen Anerkennung in der feministischen Artikulation des "wir" eine Unmöglichkeit ist, daß es nie eine Übereinstimmung darüber geben wird, wer das feminstische Subjekt ist, das fähig ist die Anerkennung zu äußern oder zu zeichnen, die von jedem in der Bewegung als Repräsentation angenommen werden könnte. Und für mich schien es wichtiger zu lernen, wie wir in einer Kultur des "Mitstreits" leben können [J.B. benutzte den deutschen Ausdruck als Übersetzung von "contestation"] . Es wird immer Debatten darüber geben, was das feministische Subjekt ist oder was es sein soll. Bei der großen Demonstration in Washington stand die Autorin Sarah Schulman, die eine wundervolle Autorin ist, auf und sagte: 'Endlich haben wir eine universelle lesbische Bewegung, wir haben es geschafft.' Und ich schaute sie an und dachte, du hast keine Ahnung was morgen passieren wird. Aber irgendwie war das ein großer phantasmatischer Moment. Aber auch ein gefährlicher Moment und ich denke, daß die Einheit für eine zu lange Zeit gepriesen und überbewertet wurde gegenüber der Kontingenz des politischen Lebens. Und so gewiß, wie ich zu so einem Freiheitsmarsch gehen würde und dort als Lesbin "Ich" oder "Wir" benutzen würde, um meine Haltung auszudrücken, oder als Frau "Ich" oder "Wir" benutzen würde - ebenso gewiß stehe ich nicht für jeden, ich stehe noch nicht einmal für mich selbst, okay. Zeitweise reduziere ich mich, um eine politische Aussage zu machen. Ja, gut, man stellt seine Forderungen auf, auch selbstbewußt, aber man muß immer offen für die Möglichkeit sein, daß die Forderung, die unter gegebenen politischen Umständen erhoben wird, in Frage gestellt wird. In einer demokratischen Streitkultur [das deutsche Wort für "culture of democratic contestation"] zu leben bedeutet auch, diese Rechte zu erlauben ... ich meine, wenn Sarah Schulmann sagt, wir haben endlich eine universelle lesbische Bewegung ... dieser utopische Enthusiasmus ist erlaubt. Wenn sie sich umdreht und die schwarzen Frauen sieht, die nein sagen, oder die bisexuellen Frauen, die nein sagen, oder die Lesben, die in der AIDS Bewegung arbeiten und sich stark mit der Schwulen- und Lesben-Bewegung identifizieren und nein sagen. Aber dieses Nein, denke ich, wird ein Teil dessen sein, was den Feminismus ausmacht. Ich meine, daß das Nein als notwendige Subversion einiger unser am höchsten geschätzten politischen Versprechungen affirmiert werden muß.
Als ich "Gender Trouble" schrieb, war ich ärgerlich über das, was ich als Zwangsheterosexismus begriff, nicht nur in der amerikanischen Theorie, sondern in der französischen Theorie, die nach Amerika importiert wurde, um einen Begriff von sexueller Differenz einzubringen, den ich auf problematische Weise heterosexistisch fand.
Ich fand den Heterosexismus sehr oft mit einem feministischen Essentialismus verbunden, und ich fing an, die Amerikanisch-Französiche Allianz aufzubrechen, mich von der Allianz loszusagen, die sich um den Begriff der sexuellen Differenz drehte. Ich wollte aufzeigen, daß dieser Feminismus Homosexualität als eine Unmöglichkeit oder als eine degradierte, verworfene Möglichkeit produzieren mußte, um die sexuelle Differenz installieren zu können; und gleichzeitig stellte die Homosexualität die sexuelle Differenz in Frage. So schrieb ich für und gegen meine heterosexuellen Freunde in der Akademie, aber ich versuchte auch einen Weg zu finden im Feminismus zu bleiben, auch nach all diesen Kämpfen. Ich möchte eine Kultur bewahren, in der gute Kämpfe geführt werden können, ohne daß es Tote gibt [lacht]. Jeder kennt das, man hat eine Beziehung und man merkt, daß wenn man diesen Kampf nicht hat, man die Freundschaft verliert.
Wir sollten differenzierter darüber nachdenken, was unsere Erwartungen von politischen Gemeinschaften sind und was es bedeutet, wenn wir die Anerkennung dessen suchen, was wir sind, und Begriffe erscheinen, um uns innerhalb der politischen Gemeinschaft zu beschreiben. Aber es ist auch wichtig zu wissen, daß die Art und Weise wie diese Begriffe uns nicht beschreiben, galvanisierend sein kann, denn das kann auf eine Zukunft der Bewegung hinweisen, wo diese Bewegung mehr Einfaltungen brauchen wird, wo sie mehr Verbindungen eingehen wird mit anderen Bewegungen. Aber ersteinmal sind in den Vereinigten Staaten ein paar unterschiedliche Dinge passiert, die ich kurz zusammenzufassen versuche.
Als erstes entstand in den USA etwas, was man Gay and Lesbian Studies nennt. Das gab es noch nicht als ich dieses Buch (Gender Trouble) schrieb. Natürlich kannte ich ein paar Leute, aber es war noch kein akademisches Thema wie es jetzt eines ist. Und nun hat mein Buch, das ich als Beitrag zur feministischen Philosophie schrieb, Anschlüsse in den gay and lebian studies und der queer theory gefunden, was insgesamt zu einem hochexplosiven Phänomen an den Akademien geworden ist. Darüber hinaus ist diese Entwicklung ein kulturelles Phänomen in den USA. Es gibt eine Reihe von Schlüsseltexten von Eve Kosofsky Sedgwick, David Miller, Diana Voss, Judith Ruth - und mehr und mehr geht es voran.
Viele haben mir vorgeworfen, daß ich zu hart mit dem Feminismus umgegangen sei und daß Queer Studies jetzt den Platz des Feminismus einnehmen würden. In der Tat habe ich damals nicht erkannt, daß ich mehr dazu hätte sagen müssen, was meiner Ansicht nach Feminismus sein kann. Doch mein Ziel in diesem Buch war es, erstmal in einer feministischen Theorie eine Kritik zu entwickeln an dem, was ich Zwangsheterosexismus [pervasive heterosexism] nannte. Die andere Sache, die ich hier noch sagen muß, ist die, daß es mich bestürzte, wie bei vielen Leute die Idee ankam, daß das gender performativ zu denken sei. Gender ist kein Teil im Kleiderschrank. Das ist eine schlimme Aneignung meiner Arbeit, denn was ich vorschlug war, daß es kein Subjekt gibt, das nicht zuerst sozialgeschlechtlich markiert [gendered] ist. That the subject only comes into being through being gendered. Daß die geschlechtliche Matrix dem Subjekt, wie wir es kennen, also vorgängig ist. Okay. Zweitens gibt es eine Zwangsheterosexualität mit einem Set von Erwartungen und Rollen, die zwar aufgebrochen werden können, aber nicht ohne Risiken für das Subjekt, mit Bestrafungen und dem Risiko, nicht mehr als intelligibles Subjekt zu gelten. Du läufst Gefahr, nicht mehr als Subjekt sichtbar zu sein. Als Jesse Helms in den USA sich entschied, obszöne Repräsentationen homosexueller Handlungen zu verbieten, stellte er eine Liste auf von obszönen Handlungen, die seiner Meinung nach kriminell sind. Und Lesben, die nicht in dieses Verbot mit eingeschlossen waren, waren damit nicht einmal sichtbar, sie traten nicht einmal in die Domäne des Verbots ein, sie waren in einer anderen Sphäre; sie waren undenkbar. So war meine Überlegung, daß Zwangsheterosexualität so funktioniert, daß sie die nicht-konformen Formen mit radikaler Undenkbarkeit indiziert. Das bedeutet, daß selbst wenn wir andere kulturelle Formen zu produzieren versuchen, die nicht in der Folge der heterosexuellen Norm aufgehen, wir trotzdem durch sie konstituiert sind. Und deshalb glaube ich nicht, daß wir völlig frei sind in der Wahl unserer Geschlechtsidentität, vielmehr wird die Geschlechtsidentität für uns ausgewählt. Wir stellen uns selbst und unser gender in der Verwandlung her, der Umdeutung, der Kraft und dem Begehren. Wir können uns nicht ein für allemal von den heterosexuellen Beschränkungen frei machen. So ist es also ein Kampf um die Artikulation einer Identität innerhalb einer Kultur, die mit vorgegebenen Identitäten operiert, gerade wenn die Kategorien umgedreht oder in Konfusion gestürzt werden sollen. Und wenn es eine Handlungsfähigkeit gibt, dann ist sie nicht Resultat der Wahl eines Subjekts, sondern sie ist die Funktion der Resignifikation, der Wiederholung [Umdeutung, Umfunktionierung] der dominanten Normen, die unsere Identität herstellen. In gewissen Sinne sind wir gezwungen, das Gesetz, das uns konstituiert, zu wiederholen, aber wir haben die Option, nicht die Wahl, das Gesetz zu wenden, es in verschiedenen Variationen zu überarbeiten. Das heißt aber nicht, daß wir jemals völlig frei davon sind. Den Fehler, den ich in "Gender Trouble" beging, war das Beispiel der Travestie anzuführen. Ich führte dieses Beispiel an, um zu zeigen was ich meinte, wenn ich von gender performativity sprach, doch es wurde so verstanden, daß es nur um die Frage geht, was ich heute anziehe.
Häufig beenden die Leute mein Buch und fragen mich dann: 'Und was ist mit der Materialität des Körpers, Judy?' Und sie sagen, 'wo bleibt die Politik, Judy?' So fügte ich den Band "Feminist Theorized" an, um diese Fragen anzugehen. Und dann habe ich ein Buch geschrieben das "Bodies that matter" heißt. Im Englischen bedeutet der Begriff "matter" beides, Stoff und Bedeutung [dt. Ausdrücke]. Ich bin gerade fertig geworden mit diesem Buch. Ich werde auch versuchen, mehr mit farbigen Frauen zusammenzuarbeiten, um über die Frage nachzudenken, wie Feminismus, Gay und Lesbian und antirassistische politische Projekte besser zusammen arbeiten können.
In "Gender Trouble" ging ich der Frage nach, wie sich sex und gender unterscheiden, und ich ging auf die Vorstellung ein, nach der das Geschlecht als eine statische Oberfläche verstanden wird, in die sich die Geschlechtsidentität einprägt. Ich fragte, ob nicht diese Vorstellung, daß sex eine Oberfläche sei, selbst eine Konstruktion sei? Wir behaupten, daß das Geschlecht ein biologischer Fakt ist, aber die Geschlechtsidentität eine kulturelle Konstruktion des Geschlechts. Doch was ist sex und wie wollen wir es kennen, wenn es außerhalb der Kultur ist? Es stellt sich heraus, daß die Vorstellung des Geschlechts eine Geschichte hat und es stellt sich auch heraus, daß es viele unterschiedliche historische Wege gibt, sex zu verstehen. Manchmal ist es ein dynamisches Prinzip, manchmal sind es Hormone und ein anderes Mal sind es die Chromosomen ... es ist kompliziert. Die Leute fragen dann, was es mit der Krankheit, mit Verletzung auf sich hat. Wollen wir nicht zugeben, daß es eine Materialität für diese Verletzungen gibt? Was ich behaupten möchte ist, daß es in dieser Konzeption ein Paradies gibt. Auf der einen Seite würde ich sagen, daß es unbestreibar ist, daß es Geburt und Tod gibt, sowie sexuelle Unterschiede und auch Verletzungen und Krankheiten, biologische Funktionen verschiedenster Art, aber wenn wir sagen, daß diese Dinge in einem bestimmten Sinne kulturell konstruiert sind, bedeutet das nicht, daß sie austauschbar sind oder daß wir ihnen jede Bedeutung, die wir wollen, zuordnen können. Was das bedeutet, wie auch immer, ist, daß in dem Maße, wie all diese Funktionen unbestreitbar sind, und in der Weise, wie wir sie beteuern, die Weise, in der wir anfangen zu sagen, was sie sind oder was sie bedeuten, in eine kulturelle Artikulation einbezogen sind. So daß wenn ich sage, der Tod ist ein materieller Fakt, sie sagen, ja das ist richtig, aber das ist eine Abstraktion. In der Minute, in der wir anfangen, den Tod zu beschreiben, sind wir auch dabei, diesen Tod zu konstruieren. Der einzige Weg, den Tod für uns verständlich zu machen, geht durch eine kulturelle Artikulation hindurch. Und das heißt nicht, daß der Tod kulturell produziert wird. Das glaube ich nicht. Das heißt nicht, daß das Geschlecht kulturell produziert ist. Das heißt nicht, daß das Leben kulturell produziert ist. Das heißt nicht, daß Sprache die Natur zum Sein bringt. Es ist nicht dieser linguistische Monismus, wo die Welt durch den Diskurs entsteht - ich glaube das nicht. In dem neuen Buch habe ich auch versucht, ein Argument zu Performativitäten zu entwickeln. Eine Sache, die in den USA mit der queer theory passiert, ist daß diese Begriffe wiederholt werden. Und sie werden in Kontexten wiederholt, in denen sie eine neue Bearbeitung erfahren. DIese Wiederholung oder Signifikation, die dieser Begriff durchläuft, ist näher an meinem Begriff der Performativität als die drag queen. Obwohl die drag queen auch in einer wirklich interessanten und dramatischen Weise wiederholt.
Ich kann es auch von einer anderen Seite her angehen. In seiner Geschichte der Sexualität bezieht sich Foucault auf die Homosexualität als eine Kategorie, die von der medizinischen Wissenschaft des 19. Jahrhundert produziert wurde, um eine Krankeit zu schaffen, die als Homosexualität klassifiziert wurde. Vor dieser Zeit, so argumentiert er (und er liegt wahrscheinlich falsch, aber das macht nichts, es ist eine tolle Geschichte) hatten Leute homosexuelle Gefühle, sie hatten homosexuellen Verkehr, sie hatten homosexuelle Beziehungen, aber sie waren nicht homosexuell. Das war kein Ausdruck für eine Identität, okay. Ein medizinisches Establishment kam daher und verkündete, wir kennen eine Bevölkerungsgruppe, sie begründeten eine Bevölkerungsgruppe und nannten sie zum ersten Mal Homosexuelle. Und plötzlich geschah es, daß jemand, der viele Dinge in seinem Leben getan hat, einschließlich Sex mit dem gleichen Geschlecht zu haben, zu nichts anderem wurde, als homosexuell zu sein. Die medizinische Wissenschaft gründete diese Kategorie, um eine Krankheit zu produzieren, um Heterosexualität zu normalisieren und um Homosexualität zu pathologisieren. Was dann passierte, so Foucault weiter, ist, daß dieser Ausdruck diskursiviert wurde. Diese Bevölkerungsgruppe, die geschaffen wurde, um unterdrückt zu werden, kann nun diesen Ausdruck besetzen und die Bedeutung des Ausdrucks umkehren, und er nannte das den umgekehrten Diskurs. Ein Ausdruck, der degradieren sollte, befähigt, mobilisiert oder animert eine politische Opposition eben gegen das medizinische Regime. Queer ist da ein weiteres Beispiel: ein schrecklich erniedrigender Ausdruck wird jetzt plötzlich von einer ganzen Gruppe aufgenommen und gegen die verwendetet, die ihm einen degradierenden oder beschimpfenden Sinn gaben. Das ist für mich eine Wiederholung und eine Subversion. Es subvertiert die ursprüngliche Bedeutung. Im Machtbereich stehen, aber seine Waffen gegen ihn selbst kehren. Das trifft das, was ich mit performativity of gender im Sinn hatte mehr als alles andere, was ich gesehen habe.
Viele Leute scheinen jetzt davon auszugehen, daß Queer der nächste Schritt für den Feminismus sei, aber ich glaube das nicht. Von vielen in den USA ist der Feminismus eines verdeckten Rassismus oder Heterosexismus verdächtigt geworden. Und andere werden sehr desillusioniert durch die Dominanz von Kathrin McKinnens. Ich glaube nicht, daß die Queer Bewegung der nächste Schritt ist. Man erkennt jetzt schon evidente maskuline Privilegien innerhalb der Bewegung. Ich hoffe, der Feminismus bleibt weiter da. Aber, wie gesagt, meine eigentliche Absicht war es, in den Feminismus zu intervenieren, nicht Barrieren aufrichten.