Barbara Jung

Techno-Tagebuch

15.9.92
Techno gibt es eigentlich nicht mehr, es gibt House mit neuen Sounds.
Gegen den Begriff Techno ist zumindest eine Abneigung entstanden, weil er verbunden ist mit repetitiven brachialen Tracks von vor 1, 2 Jahren, Schweißerbrillen und Tanzbewegungen, die empfindlichen Menschen faschistoid erschienen. Will man also überhaupt noch von Techno sprechen, so ist seit der Vermischung mit House- und Rave-Kultur etwas vollkommen anderes daraus geworden, vergleichbar mit der früher stattgefunden habenden Entwicklung in England, wo es solche Trennlinien nicht gab.


16.9.92
Hier in der kleinen Stadt, wo ich lebe, konnten sich Moden und Hypes noch nie halten. Interessant ist, daß ein Szenenwechsel zu beobachten war. Die Leute, die auf den ersten Techno-House-Parties in ihren Glitzerklamotten auftauchten, kommen einfach nicht mehr. Wer jetzt hier noch tanzen geht, ist besessen. Es gibt in Kassel kaum modische Codes, bzw. sind sie nuancierter. Es gibt hier leider auch eine merkwürdige Geschlechterdifferenz: die Frauen meinen, sie müßten alle schwarz und eng gekleidet mit "Hot Pants" und Häkelleibchen ausgehen. Das ist anderswo anders. In Frankfurt auf der omni-Party war ich von dem klamottenmäßigen Einfallsreichtum wie erschlagen.


17.9.92
Die neuen Sachen haben oft sehr eingängige Melodien. Es ist erstaunlich, daß Hörtraditionen derart verinnerlicht sind, daß sie quasi körperlich als Droge wirken und auch bewußt so eingesetzt werden. Ich meine schon, daß ein überholter Avantgardebegriff durch Neuerungen, die oft nur durch Details den Rahmen sprengen, abgelöst wird und die Beziehung zwischen Kontinuität und Innovation eher differenzierter wird, wenn auch funktionale Tendenzen spürbar werden: wenn ein Stück zwei Wochen ein Dancefloorknaller ist, ist alles gut. Melodien wird man eben auch wieder überdrüssig, aber man kann mit dieser Schnellebigkeit arbeiten: "Denbar, heute vielleicht gefordert sind Werke, die durch ihren Zeitkern sich selbst verbrennen, ihr eigenes Leben dem Augenblick der Erscheinung von Wahrheit drangeben und spurlos untergehen, ohne daß sie das im geringsten minderte." (Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, S: 219f.)
Adorno hätte sich vielleicht nicht träumen lassen, daß das auf Musik zutrifft, die, was die Harmonik angeht, an Sibelius erinnert (den er haßte).


18.9.92
Die Love-Parade in Berlin war als Demo angemeldet. Daß es ein politischer Akt ist, ein Lebensgefühl zu demonstrieren, spielte dabei weniger eine Rolle als daß es keinen anderen Weg gibt, sich in Massen auf der Straße zu treffen und Spaß zu haben, als offensichtlich Politik daraus zu machen. Das kann einem schon zu denken geben.
In Berlin habe ich sehr junge Leute gesehen, die vom Straßenrand aus Ravern beim Abfahren zugeguckt haben, die wesentlich älter sind als sie. Vielleicht ist das nötig, daß an Generationsrollen gerüttelt wird und klar wird, daß Begeisterung nicht etwas ist, daß man mit 18 "hat" wie eine Krankheit und danach fällt man in ein Gleichmaß, das den Rest des Lebens andauert.



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